Indien und Chandrayaan-3: Der Globale Süden als Protagonist
Von Kiran Karnik
Kiran Karnik ist ehemaliger Präsident der National Association of Software and Service Companies (NASSCOM) in Indien und war 20 Jahre bei der indischen Weltraumbehörde ISRO tätig. Im zweiten Abschnitt der Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 9.9.2023 sagte er folgendes. (Übersetzung aus dem Englischen, Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion hinzugefügt.)
Guten Abend, ich grüße Sie aus Gurgaon, einem Vorort von Neu-Delhi, von wo aus ich heute zu Ihnen spreche. Ich möchte etwas sehr Ehrgeiziges versuchen: Ich werde versuchen, Ihnen die Weite des Weltraums – sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne – zu vermitteln, in einem 12- oder 13-minütigen Beitrag, in dem ich kurz über das indische Raumfahrtprogramm, seine Anfänge und seine Entwicklung spreche. Aber noch wichtiger ist die Frage, wohin sich das ganze Weltraumabenteuer entwickelt.
Vieles davon, insbesondere das jüngste Interesse, vor allem in Indien, aber auch in der ganzen Welt, wurde ausgelöst durch die „Rückkehr zum Mond“, wie man es nennen möchte.
In der spannenden Zeit der 60er und 70er Jahre, als die damalige Sowjetunion und die Vereinigten Staaten im Wettlauf zum Mond waren, um dort zu landen und „Flagge zu zeigen“, war der Kalte Krieg ein entscheidender Faktor, wie wir alle wissen. Aber es gab viel Begeisterung für den Weltraum und neue Entdeckungen und es wurde viel Wissenschaft betrieben.
Danach folgte einige Jahre lang eine Pause, der Mond und der Weltraum waren in der Öffentlichkeit nicht mehr so präsent und die Menschen waren nicht mehr so enthusiastisch über die Ereignisse. Aber in den letzten Jahren ist das wieder im Kommen, aus mehreren Gründen, auf die ich noch eingehen werde.
Wie gesagt haben wir in jüngster Zeit in Indien ein aktives Raumfahrtprogramm, das vor einigen Wochen mit der sanften Landung einer indischen Landefähre auf dem Mond endete, und wie viele von Ihnen wissen, ist ein Rover auf der Mondoberfläche gelandet, hat Bilder gemacht und wissenschaftliche Experimente durchgeführt. Jetzt ist er gewissermaßen „eingeschlafen“ und wartet darauf, daß das Sonnenlicht wieder erscheint. Danach wissen wir nicht, ob der Rover weiterarbeitet oder nicht: Er ist nicht für mehr als einen Mondtag ausgelegt, der auf der Erde etwa 14 Tage dauert. Danach gibt es aufgrund der fehlenden direkten Sonneneinstrahlung keine ausreichende Energiequelle mehr. Aber wir werden sehen, was passiert. Inzwischen hat er eine Menge Daten und viele wissenschaftliche Erkenntnisse über das, was dort passiert ist, gesammelt.
Der Charakter des indischen Raumfahrtprogramms
Aber zurück zu den Anfängen der Mission: Das indische Raumfahrtprogramm begann Anfang der 60er Jahre mit einem echten Interesse an der Erforschung des Weltraums. Es wurde von Menschen vorangetrieben, die sich für die Beobachtung der kosmischen Strahlung und für den Weltraum überhaupt interessierten. Es war ein ehrgeiziges Programm für ein Land von Indiens wirtschaftlicher Größe, besonders zu jener Zeit. Es war für den Start von Raketensonden ausgelegt, und da Indien auf dem magnetischen Äquator liegt, hatte das aus wissenschaftlicher Sicht besondere Vorteile. Viele dieser Raketen sammelten unschätzbare wissenschaftliche Daten, die in viele Forschungsarbeiten eingeflossen sind, und andere haben später darauf aufgebaut.
Doch schon bald nahm das Programm eine andere Form an, angetrieben von einer Haltung, die sich ebenfalls von der vieler anderer Programme unterschied. Wie gesagt, war der Motor der Raumfahrt damals die Rivalität zwischen dem Westen und der Sowjetunion im Kalten Krieg. Und die Weltraumtechnologie wurde fast vollständig aus der militärischen Nutzung abgeleitet. Sie stammte von den Raketen, die im Zweiten Weltkrieg in geringem Umfang entstanden waren, und entwickelte sich dann weiter, als die Raketen größer wurden. Es entstanden Raketen, die Satelliten ins All bringen konnten. Und ja, es gab viel Wissenschaft, viel Interesse, Erforschung, aber die eigentliche treibende Kraft war etwas anderes.
In Indien war die treibende Kraft von Anfang an die Frage, wie man den Weltraum nutzen kann, um dem Land in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht zu helfen. Das war zusätzlich zu den erwähnten wissenschaftlichen Unternehmungen, die schon früher begonnen hatten. Man könnte also sagen, daß das Ganze auf zwei Beinen stand: zum einen die wissenschaftliche Erforschung, auf kontinuierlicher Basis, die Untersuchung der vielen Unbekannten und der Versuch, alle die Dinge herauszufinden, die der Weltraum sozusagen verbirgt und uns erst enthüllt, wenn wir dort oben sind. Und dann vor allem: Wie können wir den Raumfahrt und die Weltraumtechnologie nutzen, um Dinge zu tun, die den Menschen auf der Erde zugute kommen?
Dies wurde in vielerlei Hinsicht sehr gut von jemandem zusammengefaßt und artikuliert, der seit langem als Begründer des indischen Raumfahrtprogramms gilt: Dr. Vikram Sarabhai. Er sagte unter anderem, und ich zitiere jetzt:
„Wir sind davon überzeugt, daß wir, wenn wir auf nationaler Ebene und in der Gemeinschaft der Nationen eine bedeutende Rolle spielen wollen, bei der Anwendung fortschrittlicher Technologien auf die realen Probleme von Mensch und Gesellschaft unübertroffen sein müssen.“
Das war sein Schwerpunkt und der Schwerpunkt des Raumfahrtprogramms: Was müssen wir tun, um den Menschen und der Gesellschaft zu helfen? Und er sagte auch, gewissermaßen als Kontrapunkt dazu, das indische Raumfahrtprogramm und das, was wir damit anstreben „ist nicht damit zu verwechseln, daß wir uns in grandiose Pläne stürzen, die in erster Linie der Show dienen, statt dem Fortschritt, der sich in realen wirtschaftlichen und sozialen Begriffen mißt“.
Er war sich also darüber im Klaren, daß es bei dem Programm um den wirtschaftlichen und sozialen Nutzen vor Ort geht und nicht um Eitelkeitsprojekte oder darum, wer als Erster am Ziel ist.
Die Zeiten haben sich geändert: Die Wettbewerbsfähigkeit hat sich geändert, Indien hat sich geändert, die Welt hat sich geändert. Kommen wir kurz darauf zurück, wo wir angefangen haben. Am Anfang hat sich das Programm wirklich mit den Anwendungen der Weltraumtechnologie befaßt. Wir haben mit der Kommunikation begonnen; dann wandten wir uns der Fernerkundung zu, die für alle möglichen Anwendungen genutzt wird; dann für die Landwirtschaft, die für Indien sehr wichtig ist; für die Landnutzung, die Kartierung, den Boden, das Wasser, die Betrachtung der Berge. Und dann für die Wettervorhersage, ebenfalls ein sehr kritischer Faktor in Indien, wo wir auch heute noch, aber mehr noch vor einigen Jahrzehnten, sehr stark vom Monsunregen abhängig sind und daher das Wetter sehr genau kennen müssen, um vorherzusagen, was passieren wird und was getan werden muß.
Diese Faktoren haben das Programm sehr stark geprägt. Und so hat es sich entwickelt. Man kann die Spuren der wissenschaftlichen Erkundung in vielerlei Hinsicht aufzeigen: Bei Chandrayaan oder der Mondlandung geht es darum, neue Dinge außerhalb der Erde zu erforschen und zu versuchen, die Wissenschaft voranzubringen und besser zu verstehen, was die frühe Entstehung des Universums angetrieben hat, was existiert und was nicht, was sich außerhalb befindet, um vielleicht ein wissenschaftliches Phänomen zu untersuchen.
Der andere Bereich, der auch heute noch sehr wichtig ist, betrifft Aspekte des täglichen Gebrauchs, sei es für die Kommunikation oder für Weltraumbilder für eine ganze Reihe von Anwendungen oder für die Wettervorhersage, Positionsbestimmung, Katastrophenwarnung und eine ganze Reihe anderer Bereiche.
Über das indische Programm möchte ich nicht mehr viel sagen. Ich war mehr als zwei Jahrzehnte lang daran beteiligt, habe aber seit fast ebenso langer Zeit keinen Kontakt mehr. Ich halte mich auf dem Laufenden, aber ich bin kein Experte für das, was aktuell geschieht.
Um mit dem indischen Programm abzuschließen: Vor kurzem wurde eine neue Sonde gestartet, ein Satellit, der die Erde am sogenannten Lagrange-Punkt, einem stabilen Punkt, umkreisen wird, um die Sonne zu untersuchen. Diese Sonde wird die bereits von der ESA und insbesondere von den USA – der Europäischen Weltraumorganisation und der NASA – durchgeführten Untersuchungen der Sonne ergänzen und weitere interessante Daten liefern.
Wichtige Weltraumverträge
Wenden wir uns nun einem entfernteren Aspekt des Weltraums zu, auch dafür möchte ich mir etwas Zeit nehmen, um einige Gedanken dazu zu hinterlassen. In den frühen Jahren, als das indische Programm noch im Entstehen begriffen war, nahm Indien sehr aktiv an den Vereinten Nationen teil und war ein sehr wichtiger Akteur bei dem Versuch, eine Reihe von Verträgen und Konventionen auszuarbeiten. Es ist ein sehr gutes Zeichen, daß selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges die Russen, die damalige Sowjetunion, und der Westen zusammengearbeitet haben und in der Lage waren, einige sehr spannende Gespräche und Verträge abzuschließen, wie den Weltraumvertrag und den Mondvertrag, die beide sehr wichtig sind, weil sie zwei oder drei wichtige Dinge regeln.
Erstens: Sie verbieten die Nutzung des Weltraums für die Stationierung von Massenvernichtungswaffen. Im Nachhinein könnte man sagen, daß es schade ist, daß es nur Massenvernichtungswaffen und keine anderen Waffen betrifft, dennoch war das an sich schon ein Fortschritt. Die Stationierung von Massenvernichtungswaffen im Weltraum ist also verboten.
Zweitens wurde das Konzept des gemeinsamen Erbes der Menschheit eingeführt, das gleiche Konzept, das auch für die offenen Meere und die Antarktis verwendet wird. Dieses Konzept kann – meiner Meinung nach leider – unterschiedlich interpretiert werden, aber grundsätzlich erkennt es an, daß der Weltraum und die Planeten, der Mond eingeschlossen, gewissermaßen ein gemeinsames Erbe der Menschheit sind, und daß alles, was dort getan wird, der Menschheit als Ganzes zugute kommen muß. Es ist in gewisser Weise Teil dessen, was man als „globales Gemeingut“ bezeichnen könnte, und genau dieses Konzept des globalen Gemeinguts und des gemeinsamen Erbes der Menschheit ist dort verankert. Aber wie gesagt, es gibt unterschiedliche Interpretationen, und dazu gleich noch ein paar Anmerkungen.
Aber diese Verträge waren wichtig, und sie haben die Zusammenarbeit zwischen den Nationen im Weltraum in Bezug auf eine ganze Reihe wissenschaftlicher und anderer Faktoren vorangetrieben, trotz des anhaltenden Wettbewerbs insbesondere im militärischen Bereich.
In den letzten Jahren hat diese Art der Zusammenarbeit stark abgenommen. Ich habe vorhin über den Mond und das Auslaufen der wissenschaftlichen Missionen auf dem Mond gesprochen, und Sie wissen, daß sich bereits jetzt zwei parallele Gruppen oder Lager herausbilden, wenn Sie so wollen. Es gibt ein Artemis-Abkommen, das die USA initiiert haben und das von einer Reihe von Ländern, hauptsächlich westlichen Ländern, unterzeichnet wurde. Indien ist diesem Abkommen kürzlich beigetreten. Das andere ist ein hauptsächlich von Rußland und China betriebener Versuch, die sogenannte Internationale Mondstation. Auch hier geht es um eine kooperative Raumstation auf dem Mond, die der Erforschung und Wissenschaft dienen soll.
Anders als in der Vergangenheit, wo Dinge wie die Internationale Raumstation herausragende Beispiele für internationale Zusammenarbeit waren, was heute fortgesetzt wird, indem sich Russen und Amerikaner abstimmen (es gab in letzter Zeit einige Probleme, aber sie besteht trotzdem weiter), scheinen diese Dinge zunehmend auf der Strecke zu bleiben, und ein viel stärkerer Wettbewerbsgeist gewinnt die Oberhand, man beginnt sogar in der Wissenschaft zu konkurrieren.
Zusammenarbeit verstärken
Eine positive Entwicklung in diesem Bereich war vor kurzem das BRICS-Treffen in Johannesburg, bei dem es einige Diskussionen über die Raumfahrt gab und bei dem Indien das Konzept eines möglichen Konsortiums für die Erforschung des Weltraums vorstellte, das mit einer BRICS-Kooperation beginnen, aber hoffentlich noch viel weiter reichen wird. Wie viele von Ihnen wissen, expandieren die BRICS über die fünf Länder hinaus, deren Initialen ihnen den Namen geben. Es sind bereits sechs weitere Länder hinzugekommen, viele weitere warten auf ihren Beitritt. Es kann also etwas Substantielles daraus werden, indem ein Konsortium zur Erforschung des Weltraums wieder zu einer wirklich globalen Anstrengung wird.
Und das ist etwas, das ich sehr spannend finde. Es gibt noch andere Versuche, die Kooperation und Zusammenarbeit zu verstärken, aber wir müssen abwarten, wohin sie führen.
Besorgniserregend ist jedoch die zunehmende Nutzung des Weltraums und der sogenannten „Weltraumressourcen“ für militärische Zwecke. Im Ukraine-Krieg haben wir gesehen, daß die Weltraumtechnologie in großem Umfang für alle möglichen Dinge eingesetzt wird – über manche wird berichtet, über andere nicht, manche zitieren Quellen von hier und dort. Aber es ist ein Problem, dem wir uns stellen müssen, wenn wir weitermachen.
Der andere Punkt, auf den ich hinweisen möchte (und in Anbetracht der Zeit wird dies mein letzter Hauptpunkt sein), ist die zunehmende Rolle des Privatsektors. In mancher Hinsicht ist das sehr zu begrüßen. Der Privatsektor hat eine Menge übernommen – er entwickelt sogar Systeme für den Weltraum.
Besorgniserregend ist jedoch, daß sehr große Unternehmen, insbesondere große Technologieunternehmen, auch im Weltraum eine immer größere Rolle spielen, und daß die Rolle der staatlichen Raumfahrtbehörden in gewisser Weise abnimmt. Diese privaten Stellen werden zweifelsohne ein Interesse daran haben, schon früh auf dem Mond Bergbau zu betreiben und auf Asteroiden nach Mineralien zu suchen. Weltraumtourismus mag ja schön und gut sein, aber wenn man darüber hinausgeht und Dinge auf dem Mond oder auf Asteroiden abbaut, dann stellt sich die Frage, wohin uns das führen wird, wenn man den Kontext betrachtet, den ich bereits erwähnt habe, nämlich dem Weltraum als gemeinsames Erbe der Menschheit. Wohin wird uns das führen? Und welche Art von Sicherheitsvorkehrungen könnte es geben, um die Beteiligung des privaten Sektors an der Bereitstellung militärischer Unterstützung für das eine oder andere Land zu verhindern oder Richtlinien dafür aufzustellen, wenn sich Länder im Krieg befinden?
Wie wir wissen, ist der Weltraum inzwischen zu einem wichtigen Streitpunkt geworden. Wie gesagt handelt es sich um zwei neue Bereiche, den Cyberspace und den Weltraum, und beide sind zu sehr mächtigen und sehr umstrittenen Instrumenten geworden. Und in beiden Bereichen spielen Unternehmen und der private Sektor eine immer wichtigere Rolle. Und das könnte sehr besorgniserregend sein, denn man spricht heute manchmal von „Schurkenstaaten“ – und jedes Land hat natürlich seine eigene Definition, wer ein „Schurkenstaat“ ist –, aber wir könnten sehr bald auch „Schurken-Unternehmen“ haben! Und diese könnten weitaus schwieriger zu kontrollieren, zu behindern und sogar mit Sanktionen zu belegen sein als Schurkenstaaten, und das müssen wir im Auge behalten.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal an dem Punkt anknüpfen, an dem ich begonnen habe, mit dem Menschen und seinem Abenteuer im Weltraum. Wissen Sie, seit Äonen, man könnte sagen seit den Anfängen der Menschheit, haben die Menschen in den Weltraum geblickt und sich gefragt: „Was ist dort?“ „Was ist da draußen?“ „Wie gelange ich dorthin? Oder kann ich das nicht?“ Wir haben diese Grenze überschritten. Jetzt sind wir dort draußen, wir beginnen zu sehen, was dort ist, wir beginnen zu wissen, was dort ist. Inwieweit können wir kooperativ und als Menschheit, als eine menschliche Gattung zusammenarbeiten? Was können wir gemeinsam tun, um das große Abenteuer zu bestehen, etwas zu verstehen, das jenseits von uns liegt, um zu verstehen, was uns das kostet, um zu verstehen, was in vielerlei Hinsicht der Anfang des Universums und seine Entstehung war? Welche großen wissenschaftlichen Dinge gibt es da draußen zu entdecken?
Ich hoffe, daß die Menschen und die Nationen anfangen werden, diese Richtung einzuschlagen, indem wir zusammenarbeiten und kooperieren, anstatt den Weltraum als einen weiteren Bereich für militärische Unternehmungen zu nutzen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle enden. Vielleicht gibt es später noch einige Diskussionen und Fragen, die wir beantworten können. Ich danke Ihnen vielmals.