In den vergangenen und kommenden Tagen werden Entscheidungen getroffen, die darüber entscheiden werden, ob die Menschheit die moralische Fähigkeit besitzt, zu überleben. In ihrem wöchentlichen Dialog präsentierte Helga Zepp-LaRouche eine dramatische Gesamtübersicht, in der sie eine Analyse der Gipfeltreffen, Truppenbewegungen und positiven wirtschaftlichen Entwicklungen rund um die Belt-and-Road-Initiative miteinander verknüpfte und sowohl die enorme gegenwärtige Gefahr als auch insbesondere einen Weg aus dieser Gefahr heraus aufzeigte.
Sie betonte, daß das Getöse von US-Außenminister Blinken in der Ukraine nicht ganz im Einklang mit den Äußerungen von US-Präsident Biden stehe. Sie betonte auch, daß Putin klar gemacht habe, warum Rußland strategische Garantien benötige und daß einige im Westen dies auch ganz offen diskutierten, wie David Pyne, Gilbert Doctorow und General Kujat. Eine Delegation von sieben offensichtlich geistig unterbelichteten US-Senatoren tobte nach einer Reise nach Kiew und verlangte, daß Präsident Biden härter durchgreife, wobei Sen. Wicker forderte, daß Putin eine blutige Nase bekommen müsse. Zur gleichen Zeit war der iranische Präsident in Moskau, um ein 20-Jahres-Abkommen zu unterzeichnen und die Chinesen und Syrer schlossen eine Absichtserklärung für die Zusammenarbeit im Rahmen der BRI ab. Schließlich sprach sie in bewegenden Worten über die Konferenz des Schiller-Instituts am 17. Januar über Afghanistan, auf der die gegenwärtige Gefahr, daß Millionen von Menschen verhungern mit der axiomatischen Entscheidung Indiens verglichen wurde, Weizen über Pakistan nach Afghanistan zu liefern.
Die von Helga Zepp-LaRouche initiierte „Operation Ibn Sina“ hat im Rahmen des internationalen Seminars des Schiller-Instituts am 17. Januar mit dem Titel „Ungerechtigkeit irgendwo ist eine Bedrohung für die Gerechtigkeit überall – Beendet das Morden in Afghanistan“einen deutlichen Beitrag geleistet, das „Gewissen“ der transatlantischen Welt zu schärfen. Denn in der heutigen Welt von „Narrativen“ und „Spins“ sind viele Regierungen derzeit nur noch damit beschäftigt, in reiner Rachsucht Millionen von Menschen in den Hungertod zu treiben. Doch dagegen regt sich inzwischen empörter Widerstand aus dem Gesundheitswesen und dessen Vertretungen.
„Operation Ibn Sina“ ist nicht nur auf Afghanistan anwendbar und war auch nie als solches gedacht. Sie versteht sich selbst als eine Art Medizin, um die Seuche der „kriminellen Gleichgültigkeit“ zu überwinden, die sich glücklicherweise noch nicht auf die ganze Welt ausgebreitet hat. Mit „Operation Ibn Sina“ können wir verhindern, daß in Amerika und Europa „leider notwendige Sparmaßnahmen“ verordnet werden, denen Arme, Alte und Kranke zum Opfer fallen sollen. Deshalb müssen wir handeln, um Afghanistan zu retten und zusammen mit Rußland, China, Indien und anderen Nationen eine neue Weltgesundheitsplattform einzurichten.
„Wir müssen alles Notwendige tun, um den Schatten der Pandemie zu vertreiben und die wirtschaftliche und soziale Erholung und Entwicklung voranzutreiben, damit die Sonne der Hoffnung die Zukunft der Menschheit erhellen kann.
Die Welt erlebt heute große Veränderungen, wie wir sie seit einem Jahrhundert nicht mehr gesehen haben. Diese Veränderungen, die nicht auf einen bestimmten Moment, ein bestimmtes Ereignis, ein Land oder eine Region beschränkt sind, stellen die tiefgreifenden und weitreichenden Veränderungen unserer Zeit dar. Da die Veränderungen unserer Zeit mit der Jahrhundertpandemie zusammenfallen, befindet sich die Welt in einer neuen Phase von Turbulenzen und Wandel. Wie kann die Pandemie besiegt und die Welt nach COVID gestaltet werden? Dies sind wichtige Fragen, die die Menschen auf der ganzen Welt beschäftigen. Das sind wichtige und dringende Fragen, auf die wir Antworten geben müssen.
Ein chinesisches Sprichwort besagt: ,Die Dynamik der Welt floriert oder läßt nach; der Zustand der Welt macht Fortschritte oder macht Rückschritte‘. Die Welt entwickelt sich immer durch Widersprüche weiter; ohne Widersprüche wäre nichts. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Erreichens von Wachstum durch das Bestehen verschiedener Prüfungen und der Entwicklung durch die Überwindung verschiedener Krisen…
Starkes Vertrauen und Zusammenarbeit sind der einzig richtige Weg, um die Pandemie zu besiegen. Gegenseitiges Bremsen oder Schuldzuweisungen führen nur zu unnötigen Reaktionsverzögerungen und lenken uns vom Gesamtziel ab. Die Länder müssen die internationale Zusammenarbeit gegen COVID-19 verstärken, aktiv an der Erforschung und Entwicklung von Medikamenten mitarbeiten, gemeinsam mehrere Verteidigungslinien gegen das Coronavirus aufbauen und die Bemühungen um den Aufbau einer globalen Gesundheitsgemeinschaft für alle beschleunigen. Besonders wichtig ist es, die Impfstoffe als wirksame Waffe voll auszuschöpfen, ihre gerechte Verteilung zu gewährleisten, die Impfungen zu beschleunigen und die weltweite Impflücke zu schließen, um das Leben, die Gesundheit und die Lebensgrundlagen der Menschen wirklich zu schützen….“.
Erinnern wir uns auch an die Äußerungen von Anna Popowa, Ärztin und Leiterin der russischen Aufsichtsbehörde für Konsumentenschutz und Gesundheitsschutz, während der Dezember-Konferenz der neun GUS-Staaten zum Kampf gegen die Pandemie: „In Anbetracht der räumlichen Nähe unserer Staaten, der Gemeinsamkeiten der epidemischen Bedrohungen und des Integrationsgrads besteht eine unserer wichtigsten Aufgaben darin, ein einheitliches System für die Reaktion auf die Epidemie und die Hilfeleistung aufzubauen“. Auf derselben Konferenz sprach Präsident Wladimir Putin selbst über „gemeinsame wissenschaftliche Aktivitäten, die Entwicklung von Medikamenten und Präventivmitteln sowie den Austausch von Testkits und Mitteln zur Bekämpfung dieser Krankheit“.
Dr. Joycelyn Elders, die ehemalige U.S. Surgeon General, schlug zum Abschluß des Schiller-Institut-Seminarsvor, daß das Komitee für Zusammenfall der Gegensätzen ein „Medizinisches Manifest“ verfassen sollte – ein Vorschlag, dem Helga Zepp-LaRouche begeistert zustimmte. Die Rede, die Lyndon LaRouche zum Martin-Luther-King-Tag 2004 in den USA gehalten hat, sollte sich jeder noch einmal ins Bewußtsein rufen, um zu verstehen, wie unsere derzeitige Talfahrt in die Hölle durch eine Rückbesinnung auf die Zukunft der Menschheit gestoppt werden kann.
Der chinesische Präsident Xi Jinping hat in seiner Rede auf dem Weltwirtschaftsforum am 17. Januar alle Grundsätze dieser zutiefst malthusianischen Vereinigung in Frage gestellt. Seine Botschaft war unverblümt: Wir befinden uns inmitten einer weltweiten Krise, in der keine Nation überleben kann, noch können einzelne Aspekte der Krise gelöst werden, wenn sich nicht die Menschheit als Ganzes vorwärtsbewegt. Unter Zuhilfenahme zahlreicher chinesischer Sprichwörter wies Xi darauf hin, daß die Nationen gemeinsam handeln müssen, um eine „auf den Menschen ausgerichtete Wirtschaftsphilosophie“ umzusetzen, welche „die Entwicklung und das Wohlergehen der Menschen in den Mittelpunkt stellt“.
Mögen die westlichen Medien das nur als „kommunistische Propaganda“ hinstellen! Jeder vernünftige Mensch dürfte aufatmen, wenn er hört, daß Chinas Präsident die parasitäte Finanzwelt darüber belehrt, wie die Menschheit das heutige dunkle Zeitalter überwinden kann, indem sie die Grundprinzipien des Amerikanischen Wirtschaftssystems von Alexander Hamilton anwendet, das von dem amerikanischen Patrioten Lyndon LaRouche weiterentwickelt wurde.
Präsident Xi sagte: „Der Reichtum eines Landes bemißt sich am Reichtum seiner Bevölkerung. Dank eines beträchtlichen Wirtschaftswachstums lebt das chinesische Volk heute viel besser. Dennoch sind wir uns darüber im Klaren, daß wir auf lange Sicht noch viel harte Arbeit leisten müssen, um das Streben der Menschen nach einem noch besseren Leben zu erfüllen. China hat deutlich gemacht, daß wir mehr sichtbare und substantielle Fortschritte bei der Entwicklung jedes einzelnen Bürgers und dem gemeinsamen Wohlstand der gesamten Bevölkerung anstreben. Wir arbeiten in allen Bereichen hart daran, dieses Ziel zu erreichen. Der gemeinsame Wohlstand, den wir anstreben, ist keine Gleichmacherei. Um eine Analogie zu gebrauchen: Wir machen den Kuchen erst größer und teilen ihn dann durch vernünftige institutionelle Regelungen richtig auf. Wenn eine steigende Flut alle Boote anhebt, erhält jeder einen fairen Anteil an der Entwicklung, und die Entwicklungsgewinne kommen allen unseren Menschen auf substantielle und gerechte Weise zugute.“
Xi betonte vier Punkte. Erstens ist Zusammenarbeit erforderlich, um die Pandemie zu besiegen, die sich als langwierig erwiesen hat, mehr Varianten aufweist und sich schneller ausbreitet als zuvor, was die Gesundheit der Menschen und die Weltwirtschaft bedroht.
Zweitens ist Koordinierung erforderlich, „um die Weltwirtschaft von der Krise zur Erholung zu führen…. Die großen Volkswirtschaften sollten die Welt als eine Gemeinschaft sehen, systematischer denken, die politische Transparenz und den Informationsaustausch erhöhen und die Ziele, die Intensität und das Tempo der Steuer- und Geldpolitik koordinieren, um einen erneuten Absturz der Weltwirtschaft zu verhindern.“ Konkret warnte er, wenn die großen Volkswirtschaften in der Geldpolitik „auf die Bremse treten“, um die Inflation zu bekämpfen, ohne „neue Triebkräfte des Wirtschaftswachstums“ zu entwickeln, werde die globale Finanzstabilität erschüttert, und „die Entwicklungsländer werden die Hauptlast tragen.“
Drittens, für die globale Entwicklung muß die „Entwicklungskluft“ überwunden werden. Die Zahl der armen Menschen in der Welt „ist um über 100 Millionen gestiegen. Fast 800 Millionen Menschen leben in Hunger. Die Schwierigkeiten in den Bereichen Ernährungssicherheit, Bildung, Beschäftigung, Medizin, Gesundheit und anderen für den Lebensunterhalt der Menschen wichtigen Bereichen nehmen zu.“ Nicht nur einige Entwicklungsländer sind aufgrund der Pandemie in Armut und Instabilität zurückgefallen, auch viele Industrieländer durchleben eine schwere Zeit.
Viertens: Für keines dieser Probleme kann eine Lösung gefunden werden, wenn nicht die „Mentalität des Kalten Krieges“ aufgegeben wird, welche die Welt in Blöcke aufteilt und polarisiert. „Die Geschichte hat immer wieder bewiesen, daß Konfrontation keine Probleme löst, sondern nur katastrophale Folgen nach sich zieht.“
Die Gründerin und Vorsitzende des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, nahm am 18. Januar in der Sendung „Views on News“ des öffentlichen pakistanischen Fernsehsenders PTV World an einer Podiumsdiskussion teil. In ihrem kurzen, prägnanten Redebeitrag stellte sie dar, wie der globale Kampf gegen den Kriegskurs des militärisch-industriellen Komplexes gewonnen werden kann, wobei im Mittelpunkt stehen müsse, die afghanische Bevölkerung mit einer „Operation Ibn Sina“ vor dem Hungertod zu bewahren.
In der Sendung kam auch das gestrige Telefongespräch zwischen Wladimir Putin und dem pakistanischen Premierminister Imran Khan zur Sprache, in dem mehrere Bereiche der Zusammenarbeit erörtert wurden. Khan nutzte dabei die Gelegenheit, um Präsident Putin für seine Äußerungen vom 23. Dezember zu danken, in denen er die in der westlichen Welt weit verbreitete Islamfeindlichkeit und insbesondere die Mohammed-Karikaturen anprangerte.
Zepp-LaRouches Vorschlag für eine „Operation Ibn Sina“ – (im Westen als Avicenna bekannt), dem großen islamischen Philosophen und Arzt, der das Mittel der Quarantäne zur Bekämpfung von Epidemien entdeckte – traf in diesem emotionalen Umfeld auf sofortige Unterstützung. Der ehemalige pakistanische Verteidigungsminister, Generalleutnant a.D. Naeem Khalid Lodhi, der ebenfalls zu den Rednern auf dem Podium gehörte, reagierte begeistert auf die Idee und dankte Frau Zepp-LaRouche dafür, die Erinnerung an diese große geschichtliche Persönlichkeit aufgefrischt zu haben, und für ihren Vorschlag, den Namen Ibn Sina für die Bemühungen zur Rettung des afghanischen Volkes zu verwenden.
Der dänische Rußland-Experte Jens Jørgen Nielsen hat einen Hochschulabschluß in Ideengeschichte und Kommunikation. Ende der 90er Jahre war er Moskau-Korrespondent der großen dänischen Tageszeitung Politiken. Er ist Autor mehrerer Bücher über Rußland und die Ukraine und Leiter der Organisation „Russisch-Dänischer Dialog“. Darüber hinaus ist er außerordentlicher Professor für Kommunikation und kulturelle Unterschiede am Niels Brock Business College in Dänemark. Michelle Rasmussen, die Vizepräsidentin des Schiller-Instituts in Dänemark, führte am 30. Dezember 2021 mit ihm ein Interview über die wachsenden Spannungen zwischen dem Westen und Rußland.
Michelle Rasmussen: (…)In den letzten Tagen haben Präsident Putin und andere hochrangige russische Sprecher erklärt, Rußlands rote Linien seien fast überschritten, und haben zu Vertragsverhandlungen aufgerufen, um vom Abgrund wegzukommen. Was sind diese roten Linien und wie gefährlich ist die derzeitige Situation?
Jens Jørgen Nielsen: Ich danke Ihnen für die Einladung. Zunächst möchte ich sagen, daß ich die von Ihnen aufgeworfene Frage nach den roten Linien und auch die Frage, ob wir in einen neuen Krieg schlafwandeln, für sehr wichtig halte. Denn als Historiker weiß ich, was 1914 zu Beginn des Ersten Weltkriegs geschah: eine Art Schlafwandeln. Niemand wollte den Krieg wirklich, aber es endete mit einem Krieg, zig Millionen Menschen kamen um, und die ganze Welt löste sich zu dieser Zeit auf, die Welt war nie mehr dieselbe. Ich denke also, daß die Frage, die Sie hier stellen, sehr, sehr relevant ist.
Sie haben mich speziell nach Putin und den roten Linien gefragt. Man kann den Standpunkt vertreten – ich habe gehört, daß Bill und Hillary Clinton, John Kerry und viele andere amerikanische Politiker das behaupten -, daß es so etwas wie rote Linien nicht mehr gibt. Es gäbe keine Einflußzonen mehr, weil wir eine neue Welt haben, eine neue liberale Welt, in der solche Dinge nicht mehr existieren. Das gehöre in ein anderes Jahrhundert und ein anderes Zeitalter.
Aber man könnte die Frage stellen, was die Amerikaner eigentlich in der Ukraine tun, wenn nicht ihre eigenen roten Linien verteidigen? Ich denke, wenn da eine Supermacht ist, eine Großmacht wie Rußland, dann ist es ganz natürlich, daß jede Supermacht gewisse rote Linien hat. Denn man kann sich vorstellen, was passieren würde, wenn China, der Iran und Rußland ein Militärbündnis eingehen und sich in Mexiko, Kanada und Kuba breitmachen und dort vielleicht auch Raketen aufstellen würden. Ich glaube nicht, daß irgendjemand daran zweifelt, was passieren würde – die Vereinigten Staaten würden das natürlich niemals akzeptieren.
Die Russen würden also normalerweise fragen: Warum sollten wir akzeptieren, daß die Amerikaner mit der Ukraine verhandeln und sich darauf vorbereiten, vielleicht militärische Ausrüstung in der Ukraine aufzustellen? Warum sollten wir das tun? Ich halte das für eine sehr wichtige Frage. Und im Grunde sehen die Russen das heute als eine Frage der Macht, denn die Russen haben sich tatsächlich seit, ich würde sagen, 30 Jahren sehr bemüht. Sie haben sich wirklich bemüht. Ich war vor 30 Jahren in Rußland. Ich spreche Russisch. Ich bin mir ziemlich sicher, daß die Russen damals davon träumten, Teil der westlichen Gemeinschaft zu sein, und sie hatten eine sehr, sehr hohe Meinung von den westlichen Ländern, die Amerikaner waren zu dieser Zeit äußerst beliebt. 80% der russischen Bevölkerung hatten 1990 eine sehr positive Einstellung zu den Vereinigten Staaten. Später, heute und auch schon seit einigen Jahren, haben 80%, derselbe Prozentsatz, eine negative Einstellung zu den Amerikanern. Es ist also etwas passiert, und zwar nichts sehr Positives, denn vor 30 Jahren gab es begründete Aussichten auf eine neue Welt.
Es gab wirklich Ideen in diese Richtung, aber in den 90er Jahren wurde tatsächlich etwas vermasselt. Ich habe eine Vorstellung davon. Vielleicht können wir das im Detail besprechen. Aber man hat es vermasselt. Normalerweise denken heute viele Menschen im Westen, an den Universitäten, in der Politik usw., an allem wäre Putin schuld. „Es ist Putins Schuld. Was auch immer passiert ist, ist Putins Schuld.“ Und nun befinden wir uns in einer Situation, die der von Ihnen erwähnten Kubakrise sehr nahe kommt.
Ich glaube aber nicht, daß es ganz so ist. Ich denke, zum Tango gehören immer zwei. Das wissen wir natürlich, aber ich glaube, viele westliche Politiker haben nicht erkannt, daß der Westen eine Mitschuld an dieser Situation trägt, denn hier spielen viele Dinge eine Rolle, die wir uns in einer solchen Situation jetzt vorstellen können.
Die Fehler des Westens
Ich denke, das wichtigste, wenn man es aus russischer Sicht betrachtet, ist die Ausdehnung der NATO nach Osten. Ich halte das für eine wirklich schlechte Sache, denn Rußland war von Anfang an dagegen. Sogar Boris Jelzin, der als Mann des Westens, des demokratischen Rußlands galt, war sehr, sehr dagegen, daß dieses NATO-Bündnis nach Osten bis an die Grenzen Rußlands vorrückt.
Und wir können das jetzt sehen, denn kürzlich wurde in Amerika neues Material veröffentlicht, ein Briefwechsel zwischen Jelzin und Clinton zu dieser Zeit. Wir wissen daher genau, daß Jelzin und Andrej Kosyrew, der damalige russische Außenminister, sehr dagegen waren. Und dann kam Putin. Putin kam nicht, um dem russischen Volk seinen Willen aufzuzwingen, er kam, weil es in Rußland den Willen gab, sich dieser NATO-Erweiterung nach Osten zu widersetzen. Ich denke also, daß die Dinge an diesem Punkt begannen.
Später gab es dann die Georgien-Krise 2008 und natürlich die Ukraine-Krise 2014, mit der Krim und dem Donbaß usw.
Und jetzt sind wir sehr, sehr nahe daran – ich glaube nicht, daß es sehr wahrscheinlich ist, daß es einen Krieg geben wird, aber wir sind sehr nahe daran. Denn ich glaube, daß Kriege oft durch irgendeinen Fehler beginnen, durch einen Unfall. Jemand drückt versehentlich am Abzug oder drückt irgendwo einen Knopf, und plötzlich passiert etwas. Genau das ist 1914 passiert, zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Jemand wurde in Sarajewo erschossen. Jeder weiß das, und solche Dinge können passieren. Und für uns, die wir in Europa leben, ist der Gedanke an einen Krieg schrecklich. Man kann Putin hassen. Man kann denken, was man will. Aber der Gedanke an einen Atomkrieg ist für uns alle furchtbar, und deshalb denke ich, daß die Politiker zur Vernunft kommen könnten.
Und ich halte auch diese Dämonisierung Rußlands und Putins für sehr schlecht – natürlich für die Russen, aber es ist auch sehr schlecht für uns hier im Westen, für uns, in Europa und auch in Amerika. Ich glaube nicht, daß das gut für unsere Demokratie ist. Ich glaube nicht, daß es überhaupt gut ist. Ich sehe darin nicht sehr viele gesunde Perspektiven. Ich sehe gar keine.
Ich sehe andere Perspektiven, denn wir könnten auf andere Weise zusammenarbeiten. Es gibt natürlich Möglichkeiten, die bisher nicht genutzt oder umgesetzt werden, die man aber sehr wohl nutzen könnte.
Also ja, Ihre Frage ist sehr, sehr relevant und wir können ausführlich darüber sprechen. Ich bin sehr froh, daß Sie diese Frage stellen, denn wenn man diese Fragen heute in den dänischen und westlichen Medien überhaupt stellt – da denken alle, es reicht, zu sagen, Putin ist ein Schurke, Putin ist ein Gauner, und damit ist alles gut. Nein, wir müssen miteinander auskommen. Wir müssen Wege finden, um zu kooperieren, denn sonst wird das unser aller Untergang sein.
Rasmussen: Können Sie die Geschichte der NATO-Osterweiterung noch einmal kurz erläutern? Bei den von Rußland vorgeschlagenen Verträgen geht es erstens darum, die Ukraine daran zu hindern, formell Mitglied der NATO zu werden, und zweitens darum, die allgemeine Ausweitung der NATO nach Osten zu verhindern, sowohl in Bezug auf Soldaten als auch auf militärische Ausrüstung. Können Sie etwas dazu sagen, auch im Hinblick auf die gebrochenen Versprechen von westlicher Seite?
Nielsen: Ja. Eigentlich geht die Geschichte bis zum Anfang der neunziger Jahre zurück. Ich hatte 1999 ein langes Gespräch mit Michail Gorbatschow, dem ehemaligen Staatschef der Sowjetunion, gerade als die NATO begann, Serbien zu bombardieren, und als sie Polen, die Tschechische Republik und Ungarn in die NATO aufnahm. Zu der Zeit führte ich ein langes Gespräch mit Gorbatschow. Man sollte nicht vergessen, daß Gorbatschow ein sehr netter Mensch ist. Er ist ein sehr lebhafter Mensch, gut gelaunt, und ein erfahrener Mensch. Aber als wir anfingen zu reden, fragte ich ihn nach der NATO-Erweiterung, die genau an dem Tag stattfand, als wir uns unterhielten. Er wurde sehr düster, sehr traurig, und er sagte: „Nun, ich habe mit James Baker, Helmut Kohl aus Deutschland und einigen anderen gesprochen, und sie alle haben mir versprochen, sich keinen Zentimeter nach Osten zu bewegen, wenn die Sowjetunion Deutschland die Vereinigung der DDR und Westdeutschlands erlaubt, ein Land zu werden, und Mitglied der NATO zu werden – sie würden sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen.“
Ich denke auch, einige der neuen Materialien, die veröffentlicht wurden – ich habe einige davon gelesen, einiges auf WikiLeaks, anderes kann man finden, es ist freigegeben – sind sehr interessant. Es besteht überhaupt kein Zweifel. Es gab mehrere mündliche persönliche Versprechen an Michail Gorbatschow. Sie wurden nicht schriftlich festgehalten, denn wie er sagte: „Ich habe ihnen geglaubt. Ich erkenne jetzt, daß ich naiv war.“
Ich denke, das ist ein Schlüssel zu Putin heute, um zu verstehen, warum Putin nicht nur schöne Worte will. Er will etwas, das auf einem Vertrag basiert, weil er dem Westen im Grunde genommen nicht glaubt. Das Vertrauen zwischen Rußland und den NATO-Ländern ist heute sehr, sehr gering. Und das ist natürlich ein Problem, und ich glaube nicht, daß wir es in wenigen Jahren überwinden können. Es braucht Zeit, um Vertrauen aufzubauen, aber im Moment ist das Vertrauen noch nicht da.
Jedenfalls hat sich die NATO-Erweiterung Schritt für Schritt vollzogen. Zuerst waren es die drei Länder Polen, Ungarn und die Tschechische Republik, und dann, 2004, sechs Jahre später, kamen unter anderem die baltischen Republiken, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien hinzu. Später kamen dann die anderen hinzu, Albanien, Kroatien usw. Und dann gab es 2008 einen NATO-Gipfel in Bukarest, auf dem George W. Bush, der Präsident der Vereinigten Staaten, Georgien und der Ukraine die Mitgliedschaft in der NATO versprach. Putin war anwesend. Zu dem Zeitpunkt war er nicht Präsident. Er war Ministerpräsident Rußlands, der Präsident war Medwedjew. Er war damals sehr wütend. Doch was konnte er tun? Er sagte aber damals sehr, sehr deutlich: „Das akzeptieren wir nicht, weil hier unsere roten Linien überschritten würden. Wir haben die baltischen Staaten [in der NATO] akzeptiert. Wir weichen zurück. Wir weichen seit Jahren zurück, aber jetzt kommt das nicht auf den Tisch.“
Es kam, wie es kam, weil Deutschland und Frankreich, Merkel und Hollande, damals nicht akzeptierten, daß die Ukraine und Georgien Mitglied der NATO werden. Aber die Vereinigten Staaten drängten darauf, und es steht immer noch auf der Tagesordnung der Vereinigten Staaten, daß Georgien und die Ukraine Mitglied der NATO werden sollen.
Im August desselben Jahres, einige Monate nach diesem NATO-Gipfel, kam es dann zu einem kleinen Krieg, bei dem Georgien Südossetien angriff, das früher ein selbstverwalteter Teil Georgiens war. Der amtierende georgische Präsident Micheil Saakaschwili wollte den autonomen Status Südossetiens nicht akzeptieren, also griff Georgien Südossetien an. In Südossetien waren russische Soldaten stationiert, und 14 von ihnen wurden von der georgischen Armee getötet.
Man könnte folgendes sagen: George W. Bush hatte dem georgischen Präsidenten Saakaschwili versprochen, die Amerikaner würden die Georgier unterstützen, falls Rußland Vergeltung üben sollte – was auch geschah. Die russische Armee war natürlich viel größer als die georgische Armee, sie zerschlug die georgische Armee in fünf Tagen und zog sich dann zurück. Die Vereinigten Staaten haben den Georgiern nicht geholfen. Und ich denke, daß das vom moralischen Standpunkt aus gesehen keine sehr kluge Politik ist, denn man kann nicht sagen: „Macht einfach weiter, wir werden euch helfen“ – und dann, wenn es ernst wird, überhaupt nicht helfen. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet ist das nicht sehr fair.
Der Putsch in der Ukraine
Aber im Grunde ist es das Gleiche, was jetzt offenbar in der Ukraine passiert. In der Ukraine gab es 2014 einen Staatsstreich, so würde ich es nennen, einen orchestrierten Staatsstreich. Ich weiß, daß es dazu völlig unterschiedliche Meinungen gibt, aber meine Meinung ist, daß es eine Art Putsch war, um den amtierenden Präsidenten Viktor Janukowitsch zu stürzen und ihn durch jemanden zu ersetzen, der sehr stark daran interessiert war, in die NATO zu kommen.
Janukowitsch war nicht besonders an einem NATO-Beitritt interessiert, aber er hatte immer noch die Mehrheit der Bevölkerung. Und das ist interessant. In der Ukraine gab es viele Meinungsumfragen, die von Deutschen, Amerikanern, Franzosen, Europäern, Russen und Ukrainern durchgeführt wurden; und alle diese Meinungsumfragen zeigen, daß eine Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung nicht der NATO beitreten wollte.
Dann ging alles bekanntlich sehr schnell, denn die Krim war für Rußland aus vielen Gründen eine sehr, sehr heikle Frage. Erstens war die Krim ein umstrittenes Gebiet, das war es von Anfang an, seit 1991, als die Ukraine unabhängig wurde. Es gab keine Einstimmigkeit über die Krim und ihren Status, weil der größte Teil der Krim russischsprachig war und Rußland kulturell, historisch sehr nahe steht. Sie steht Rußland sehr nahe, es ist sogar einer der patriotischsten Teile Rußlands. Es ist also insofern ein sehr merkwürdiger Teil der Ukraine, das war schon immer so – ein sehr merkwürdiger Teil der Ukraine.
Und so habe ich keinen Zweifel daran, bezogen auf die Mehrheit der Menschen in einem Konflikt, wenn das erste, was die neue Regierung im Februar 2014 tat, war, die russische Sprache zu verbieten, als eine Sprache, die in der lokalen Verwaltung verwendet wurde, und ähnliches: Das war eines der dümmsten Dinge, die man in einer so angespannten Situation tun konnte. Die Ukraine ist im Grunde eine sehr gespaltene Gesellschaft. Der östliche, südliche Teil liegt sehr nah an Rußland. Sie sprechen Russisch und sind der russischen Kultur sehr nahe. Der westliche Teil, der westlichste Teil um Lemberg, liegt sehr nahe an Polen und Österreich und solchen Gebieten. Es ist also eine gespaltene Gesellschaft. Und in einer solchen Gesellschaft hat man mehrere Möglichkeiten. Eine Möglichkeit ist, alle verschiedenen Teile der Gesellschaft einzubinden. Oder man kann, und das ist dann auch passiert, einem Teil seinen Willen aufzwingen, gegen dessen Willen. Und genau das ist passiert.
Es gibt also mehrere Krisen. Es gibt die Krise in der Ukraine, mit zwei ungefähr gleich großen Teilen der Ukraine. Aber auf der anderen Seite gibt es auch die Frage zwischen Rußland und der NATO. Da waren also zwei Krisen, die zusammenkamen und 2014 zugespitzt wurden. Sie hatten also eine sehr explosive Situation, die bis heute nicht gelöst ist.
Und was die Ukraine betrifft, so sage ich, daß es unmöglich ist, diesen Konflikt zwischen Rußland und der NATO zu lösen, solange es sich um eine der korruptesten und ärmsten Gesellschaften in Europa handelt. Viele Menschen kommen von dort nach Dänemark, wo wir jetzt sind, nach Deutschland und auch nach Rußland. Millionen von Ukrainern sind ins Ausland gegangen, um dort zu arbeiten, denn es gibt wirklich viele, viele soziale Probleme, wirtschaftliche Probleme und so weiter.
Und das ist der Grund, warum Putin sagte – erinnern wir uns, was Gorbatschow mir über die Dinge auf dem Papier sagte, über Verträge, die unterzeichnet werden – ,was Putin tatsächlich zum Westen sagte: „Ich glaube euch nicht wirklich, denn ihr betrügt, wenn ihr damit durchkommt.“ Er hat es zwar nicht so ausgedrückt, aber genau so hat er es gemeint. „Deshalb sage ich euch jetzt sehr, sehr, sehr, sehr deutlich, was unsere Standpunkte sind. Wir haben rote Linien, so wie ihr rote Linien habt. Versucht nicht, sie zu überschreiten.“
Und mir scheint, daß das vielen Menschen im Westen nicht gefällt. Ich denke, es ist sehr klar, denn wenn man es historisch vergleicht, sind die roten Linien sehr vernünftig. Wenn man es mit den Vereinigten Staaten und ihrer Monroe-Doktrin vergleicht, die in den USA immer noch gültig ist, dann sind das sehr, sehr vernünftige rote Linien. Ich würde sagen, daß die Ukraine, viele Ukrainer, Rußland sehr nahe stehen. Ich habe viele ukrainische Freunde. Manchmal vergesse ich, daß sie Ukrainer sind, denn ihre Muttersprache ist eigentlich Russisch, das dem Ukrainischen ähnlich ist. Daß solche Länder Teil eines antirussischen Militärpakts sind, ist deshalb einfach Wahnsinn. Das kann nicht funktionieren. Es wird nicht funktionieren. Ein solches Land würde für viele, viele Jahre oder sogar nie wieder ein normales Land sein.
Ich denke, ein Großteil der Schuld liegt bei der NATO-Erweiterung und bei den Politikern, die seit Jahren darauf drängten. In erster Linie waren es zuerst Bill Clinton und Madame Albright ab 1993. Zu der Zeit haben sie die Politik der großen Osterweiterung beschlossen. Und auch George W. Bush drängte darauf, daß die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden.
Und je mehr das passiert, desto mehr sammeln sich die Menschen in Rußland um die Fahne. So könnte man es ausdrücken, denn es wird Druck ausgeübt. Und je mehr Druck wir mit der NATO ausüben, desto mehr werden sich die Russen um die Fahne scharen, und desto autoritärer wird Rußland sein. Wir befinden uns also in dieser Situation. Es geschehen auch Dinge in Rußland, die ich zugegebenermaßen nicht gut finde, wie die Schließung einiger Büros, die Schließung einiger Medien – das gefällt mir ganz und gar nicht. Aber in einer Zeit der Konfrontation halte ich das für rational und verständlich, auch wenn ich es nicht verteidigen würde. Aber es ist verständlich. Denn die Vereinigten Staaten haben nach dem 11. September 2001 auch eine Menge Verteidigungsmaßnahmen ergriffen, eine Art Zensur und dergleichen. So etwas passiert also, wenn man solche angespannten Situationen hat.
Wir sollten auch nicht vergessen, daß Rußland und die Vereinigten Staaten die beiden Länder sind, die 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen besitzen. Allein der Gedanke, daß sie etwas davon einsetzen könnten, ist eine Weltuntergangsperspektive, denn das wird kein „kleiner“ Krieg sein wie der Zweite Weltkrieg, sondern es würde den Zweiten Weltkrieg in den Schatten stellen, Milliarden Menschen würden sterben. Und es ist nicht sicher, ob die Menschheit überleben wird. Es ist also eine sehr, sehr ernste Frage. Und ich glaube, wir sollten uns fragen, ob das Recht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft, die ihre eigene Bevölkerung nicht wirklich will, wirklich das Risiko eines Atomkriegs wert ist. So würde ich es formulieren.
Ich werde Rußland nicht von aller Schuld freisprechen. Darum geht es mir hier nicht. Mir geht es darum, daß diese Frage zu wichtig ist. Sie ist sehr, sehr wichtig. Es ist sehr wichtig, daß wir eine Art Modus Vivendi schaffen.
Das ist ein Problem für den Westen. Ich glaube auch, es ist sehr wichtig ist, daß wir im Westen lernen, mit Menschen umzugehen, die nicht so sind wie wir. Wir neigen dazu, zu denken, daß die Menschen Demokraten werden sollten, wie wir Demokraten sind, und nur dann können wir mit ihnen klarkommen. „Wenn sie keine Demokraten sind wie wir, werden wir alles tun, um sie zu Demokraten zu machen. Wir werden Leute unterstützen, die eine Revolution in diesem Land machen wollen, damit sie so werden wie wir.“ Das ist eine sehr, sehr gefährliche und zerstörerische Denkweise.
Ich glaube, wir im Westen sollten vielleicht ein wenig mehr studieren, was in anderen Organisationen passiert, in denen der Westen nicht dominiert. Ich denke dabei an die BRICS als eine Organisation. Ich denke auch an die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, in der die asiatischen Länder zusammenarbeiten, ohne auf die anderen Einfluß zu nehmen. Die Chinesen fordern nicht, daß wir alle Konfuzianer sein sollen. Und die Russen verlangen nicht, daß alle Menschen auf der Welt orthodoxe Christen sein sollen, usw. Ich glaube, es ist sehr, sehr wichtig, daß wir uns vor Augen halten, daß wir so miteinander auskommen sollten, wie wir sind, und keine Veränderungen fordern. Ich halte das für ein wirklich gefährliches und dummes Spiel, das wir da spielen. Ich glaube, die Europäische Union ist auch sehr aktiv in diesem Spiel. Diese Art zu denken hat meiner Meinung nach überhaupt keine positive Perspektive.
Rasmussen: Heute [am 30.12. 2021] werden die Präsidenten Biden und Putin miteinander telefonieren, und für Mitte Januar sind wichtige diplomatische Treffen geplant. Wovon wird es abhängen, ob die Diplomatie eine Katastrophe wie die Kuba-Raketenkrise verhindern kann? Helga Zepp-LaRouche hat es gerade eine „umgekehrte Kubakrise“ genannt. Wird Rußland das Gefühl haben, daß es keine Alternative zu einer militärischen Antwort hat, so wie es das offen erklärt hat? Was muß sich auf westlicher Seite ändern? Wenn Sie mit Präsident Biden oder anderen Staatschefs von NATO-Ländern allein in einem Raum wären, was würden Sie ihnen sagen?
Was ich Präsident Biden sagen würde
Nielsen: Ich würde sagen:
„Hören Sie, Joe, ich verstehe Ihre Bedenken. Ich verstehe, daß Sie sich als Verfechter der Freiheit und solcher Dinge in der Welt sehen. Ich verstehe das Positive daran, aber sehen Sie, das Spiel, das Sie jetzt mit Rußland spielen, ist ein sehr, sehr gefährliches Spiel. Und Sie können die Russen, ein sehr stolzes Volk, nicht zwingen. Das ist keine Option. Ich meine, Sie können es nicht. Es war zwar die Politik der USA und bis zu einem gewissen Grad auch der Europäischen Union, Rußland umzukrempeln, so daß es einen anderen Präsidenten bekommt und Putin gegen einen anderen Präsidenten austauscht. Aber ich kann Ihnen versichern“ – wenn ich mit Joe Biden spreche – „Joe Biden, seien Sie sicher, wenn Sie Erfolg haben oder wenn Putin morgen stirbt oder sie irgendwie einen neuen Präsidenten bekommen – ich kann Ihnen versichern, daß der neue Präsident genauso hart sein wird wie Putin, vielleicht sogar härter. Denn in Rußland gibt es viel härtere Leute.
Viele, ich würde sogar sagen, die meisten Menschen in Rußland, die Putin Vorwürfe machen, werfen ihm vor, er sei dem Westen gegenüber nicht hart genug. Er sei dem Westen gegenüber weich, zu liberal, und viele Menschen machen ihm Vorwürfe, daß er den östlichen, südlichen Teil der Ukraine noch nicht übernommen hat, sie meinen, er hätte das tun sollen.“
Weiter würde ich Biden sagen:
„Ich denke, es wäre klug von Ihnen, Putin jetzt zu unterstützen oder mit ihm zu verhandeln, sich auf Putin einzulassen und etwas Diplomatie zu betreiben, denn die Alternative ist ein möglicher Krieg, und Sie sollten nicht als der amerikanische Präsident in die Geschichte eingehen, der für die Auslöschung der Menschheit gesorgt hat. Das wäre ein sehr schlechtes Zeugnis für Sie.
Und es gibt Möglichkeiten, denn ich glaube nicht, daß Putin unvernünftig ist. Rußland hat sich nicht unvernünftig verhalten. Ich glaube, es hat eine Kehrtwende vollzogen. Denn 1991 waren es die Russen selbst, die die Sowjetunion auflösten. Es waren die Russen, Moskau, die den Warschauer Pakt auflösten. Es waren die Russen, die den baltischen Ländern und allen anderen Sowjetrepubliken die Freiheit schenkten, ohne einen Schuß, und die eine halbe Million sowjetischer Soldaten nach Rußland zurückholten. Es wurde kein einziger Schuß abgefeuert. Ich denke, das ist außergewöhnlich.
Wenn man es damit vergleicht, was nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Auflösung des französischen und des britischen Kolonialreichs geschah, war es in vieler Hinsicht sehr, sehr zivilisiert. Hören Sie also auf, Rußland als unzivilisiertes, dummes Volk zu betrachten, das nichts anderes versteht als bloße Macht. Die Russen sind ein gebildetes Volk. Sie verstehen viele Argumente, und sie sind an einer Zusammenarbeit interessiert.
Für die Vereinigten Staaten, aber auch für den Westen allgemein und die EU wäre es von großem Vorteil, eine produktivere, pragmatischere Beziehung und Zusammenarbeit aufzubauen. Es gibt viele Dinge in Bezug auf Energie, Klima, Terrorismus und vieles andere, bei denen eine Zusammenarbeit mit ihnen eine Win-Win-Situation darstellt.
Das einzige, worum Rußland bittet, ist, daß wir unsere militärische Ausrüstung nicht in seinem Hinterhof stationieren. Es sollte uns doch nicht schwer fallen, das zu akzeptieren – und schon gar nicht, zu verstehen, warum die Russen so denken. Man sollte sich an die Geschichte erinnern, daß Armeen aus dem Westen Rußland angegriffen haben. Deshalb ist das in ihren Genen. Ich glaube nicht, daß es in Rußland auch nur einen Menschen gibt, der die enormen Verluste, die die Sowjetunion in den 1940er Jahren im Zweiten Weltkrieg durch Nazi-Deutschland erlitt, vergessen hat oder sich dessen nicht bewußt ist. Und auch Napoleon hat versucht, Rußland zu erobern. Diese Erfahrungen mit westlichen Armeen, die in Rußland einmarschierten, gibt es reichlich. Das ist also sehr, sehr groß und steckt sehr, sehr tief.“
Rasmussen: Waren es etwa 20 Millionen Menschen, die während des Zweiten Weltkriegs starben?
Nielsen: In der Sowjetunion. Es gab auch Ukrainer und andere Nationalitäten, aber es waren etwa 18 Millionen Russen, wenn man sie zählen kann, weil es die Sowjetunion war, aber insgesamt 27 Millionen Menschen. Das ist riesig. Rußland hat Erfahrung mit Krieg, die Russen werden daher sicherlich keinen Krieg mögen. Ich denke, die Russen haben Erfahrungen mit dem Krieg, die auch die Europäer bis zu einem gewissen Grad haben, die aber die Vereinigten Staaten nicht haben.
Das, woran ich mich in jüngster Zeit erinnere, ist der Anschlag vom 11. September [2001] auf die Zwillingstürme in New York. Ansonsten haben die Vereinigten Staaten diese Erfahrungen nicht gemacht. Sie neigen dazu, eher ideologisch zu denken, während sicherlich die Russen, aber auch bis zu einem gewissen Grad einige Leute in Europa, eher pragmatisch denken, daß wir um jeden Preis einen Krieg vermeiden sollten, weil ein Krieg mehr Probleme schafft als löst. Wir sollten also eine pragmatische Zusammenarbeit anstreben. Es wird nicht unbedingt eine Liebesheirat sein, das natürlich nicht. Aber es wird auf einer sehr pragmatischen Ebene ablaufen.
Rasmussen: Auch im Hinblick auf die Reaktion auf die schreckliche humanitäre Lage in Afghanistan und die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Pandemie.
Nielsen: Ja. Natürlich gibt es Möglichkeiten. Im Moment ist es so, daß wir nicht einmal in Bezug auf Impfstoffe zusammenarbeiten können, und vieles verhärtet sich auf beiden Seiten, weil wir sehr, sehr wenig Kontakt haben.
Ich hatte Pläne für eine Zusammenarbeit zwischen dänischen und russischen Universitäten in Bezug auf die Entwicklung von Unternehmen und dergleichen, aber es stellte sich heraus, daß dafür keine einzige Krone da war – das ist unsere Währung. Projekte in Südamerika, Afrika und allen anderen Ländern wären möglich, aber nicht in Rußland. Das ist schlichtweg dumm.
Westliche Vorurteile gegenüber Rußland
Rasmussen: Ich wollte Sie noch etwas mehr dazu fragen, denn Sie haben kürzlich zwei Bücher über Rußland geschrieben. Das eine trägt den Titel „Zu seinen Bedingungen: Putin und das neue Rußland“ und das neueste, das gerade erst im September erschienen ist, „Rußland gegen den Strich“. Viele Menschen im Westen stellen Rußland als den Feind dar, der allein für die aktuelle Situation verantwortlich ist, und Putin als einen Diktator, der seine Nachbarn militärisch bedroht und die Demokratie der freien Welt gefährdet. Stimmt das – über das hinaus, was Sie bereits gesagt haben -, oder haben Sie eine andere Sichtweise?
Nielsen: Natürlich habe ich eine andere Sichtweise. Ich denke, Rußland ist kein perfektes Land, denn ein solches Land gibt es nicht – nicht einmal Dänemark. Manche meinen, daß Dänemark das ist, aber so etwas wie eine perfekte Gesellschaft gibt es nicht. Denn Gesellschaften entwickeln sich immer von irgendwoher irgendwohin, so auch Rußland.
Rußland ist ein sehr, sehr großes Land. Man kann also durchaus Dinge finden, die in Rußland nicht sehr sympathisch sind. Definitiv. Darum geht es mir hier nicht. Aber ich habe in meinem letzten Buch versucht, herauszufinden, wie westliche Philosophen und Kirchenleute in den vergangenen Jahrhunderten Rußland betrachtet haben. Und es gab so etwas wie einen roten Faden, eine Art ständige Fortsetzung. Denn Rußland wurde sehr, sehr, sehr oft als unser Gegner charakterisiert, als ein Land, das gegen grundlegende europäische Werte ist. Vor 500 Jahren war es gegen die römisch-katholische Kirche, im 17. und 18. Jahrhundert war es gegen die Philosophen der Aufklärung, und im 20. Jahrhundert ging es um den Kommunismus, der auch die Menschen im Westen gespalten hat und als Bedrohung angesehen wurde. Auch heute noch wird er als Bedrohung angesehen, obwohl Putin kein Kommunist ist. Er ist kein Kommunist, er ist ein gemäßigter Konservativer, würde ich sagen. Selbst zu Zeiten Jelzins galt er als liberal und fortschrittlich, und er liebte den Westen und folgte dem Westen in fast allem, was er vorschlug.
Dennoch gibt es etwas in Bezug auf Rußland, von dem ich denke, daß es aus philosophischer Sicht sehr wichtig ist, festzustellen – daß wir einige sehr tief verwurzelte Vorurteile über Rußland haben. Und ich glaube, das spielt eine Rolle. Denn wenn ich mit Leuten spreche, höre ich sie sagen: „Rußland ist ein schreckliches Land, und Putin ist einfach ein sehr, sehr böser Mensch, ein Diktator.“ – „Waren Sie schon einmal in Rußland? Kennen Sie irgendwelche Russen?“ – „Nein, nicht wirklich.“ – „Okay. Aber worauf stützen Sie Ihre Ansichten?“ – „Na ja, auf das, was ich in den Zeitungen lese, natürlich, was man mir im Fernsehen erzählt.“ Und ich spreche sehr oft mit russischen Politikern und anderen Menschen, und die Russen haben die Nase voll von dieser Vorstellung, daß der Westen etwas Besseres sei. „Wir sind auf einem höheren Niveau, und wenn die Russen vom Westen akzeptiert werden wollen, müssen sie so werden wie wir. Oder zumindest sollten sie zugeben, daß sie sich auf einem niedrigeren Niveau befinden, im Vergleich zu unserem sehr hohen Niveau.“
Das ist der Grund, warum die Russen, wenn sie mit China oder Indien zu tun haben oder mit afrikanischen Ländern und auch lateinamerikanischen Ländern, nicht auf eine solche Haltung stoßen, sie sind auf gleicher Augenhöhe. Jeder ist anders, ja, aber man betrachtet ihn nicht als auf einer höheren Ebene stehend.
Ich glaube, deshalb ist die Zusammenarbeit in den BRICS-Staaten, über die wir gesprochen haben, und in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit recht erfolgreich. Und ich weiß nicht, wie die Zukunft aussieht, aber ich habe das Gefühl, daß Afghanistan, wenn es auf die eine oder andere Weise in eine solche Organisation integriert werden kann, wahrscheinlich erfolgreicher wäre als die 20 Jahre, die die NATO-Länder dort waren.
Ich glaube, daß die kulturelle Einstellung eine Rolle spielt, wenn wir über Politik sprechen, denn ein Großteil der Politik von amerikanischer und europäischer Seite ist sehr emotional. Wir haben gewisse Empfindungen. Wir haben Angst vor Rußland. „Wir mögen es nicht“ oder „Wir finden es furchtbar.“ Und: „Wir wissen viel besser, wie man eine Gesellschaft organisiert, als die Russen und die Chinesen und die Inder und die Muslime usw.“ Und ich glaube, das ist ein Teil unseres Problems im Westen. Es gehört zu unserer Denkweise, unserer Philosophie, die wir meiner Meinung nach genauer unter die Lupe nehmen und kritisieren sollten. Aber das ist schwierig, denn es ist sehr tief verwurzelt.
Wenn ich mit Menschen an Universitäten, in den Medien und anderswo diskutiere, stoße ich darauf. Deshalb habe ich das neueste Buch geschrieben, weil es sehr viel mit unserer Art über Rußland zu denken zu tun hat. Das Buch geht natürlich um Rußland, aber es geht auch um uns, unsere Brille, wie wir Rußland wahrnehmen – und nicht nur Rußland, sondern auch China, denn das ist mehr oder weniger dasselbe. Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen der Art und Weise, wie wir Rußland sehen, und wie wir China und andere Länder sehen und wahrnehmen.
Ich halte das für eine sehr, sehr wichtige Sache, mit der wir uns befassen müssen. Wir müssen das tun, denn andernfalls, wenn Amerika und Rußland sich entscheiden, das ganze Feuerwerk ihrer nuklearen Macht einzusetzen, dann ist das das Ende.
Man kann das sehr scharf formulieren und es so sagen, und das wird den Leuten nicht gefallen. Aber im Grunde stehen wir vor diesen zwei Alternativen. Wir müssen Wege finden, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die nicht so sind wie wir und auch nicht so sein werden, jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten. Wir müssen akzeptieren, daß sie nicht so sind wie wir, aber wir kommen miteinander aus, so gut wir können. Jeder behält seine Unterschiede, aber wir respektieren uns gegenseitig. Ich denke, das ist es, was wir von den westlichen Ländern brauchen. Das halte ich für das Grundproblem im Umgang mit anderen Ländern heute.
Und das gleiche, was ich gesagt habe, gilt für China. Ich beherrsche die chinesische Sprache nicht. Ich bin in China gewesen, ich weiß ein bißchen was über China. Rußland kenne ich sehr gut. Ich spreche Russisch, also weiß ich, wie die Russen darüber denken, welche Gefühle sie dabei haben. Und ich halte es für wichtig, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Rasmussen: Sie haben, glaube ich, auch darauf hingewiesen, daß Putin 2001 nach dem Anschlag auf das World Trade Center, der erste war, der George W. Bush angerufen hat, und er hat ihm eine Zusammenarbeit gegen den Terrorismus angeboten. Ich glaube, Sie haben geschrieben, daß er eine pro-westliche Kriegsphilosophie hatte, was aber nicht erwidert wurde.
Nielsen: Ja, ja, ja. Danach wurde er vom [russischen] Militär und auch von Politikern kritisiert, zu Beginn seiner ersten Amtszeit – 2000, 2001, 2002 -, weil er sich zu sehr für Amerika begeisterte. Er sagte sogar in einem Interview mit der BBC, er hätte gerne, daß Rußland Mitglied der NATO wird. Dazu ist es nicht gekommen, dafür gibt es viele Gründe, aber er war wirklich scharf darauf.
Das ist auch der Grund, warum er sich danach völlig verraten fühlte. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 sagte er, er sei sehr enttäuscht, und es war ganz klar, daß er sich vom Westen verraten fühlte. Er hatte gedacht, beide hätten eine gemeinsame Agenda. Er war der Meinung, Rußland sollte Mitglied werden. Aber wahrscheinlich ist Rußland zu groß. Wenn man sich vorstellt, Rußland würde Mitglied der Europäischen Union, dann würde sich die Europäische Union grundlegend verändern. Aber es kam nicht dazu. Rußland ist nicht Mitglied geworden. Das ist verständlich. Aber dann hätte die Europäische Union meiner Meinung nach wieder einen Modus Vivendi finden müssen.
Rasmussen: Ein einvernehmliches Zusammenleben.
Nielsen: Ja, ein Zusammenleben. Es war eigentlich eine parallele Entwicklung der EU und der NATO gegen Rußland. 2009 lud die Europäische Union Georgien, die Ukraine, Weißrußland, Armenien und Aserbaidschan ein, Mitglied der Union zu werden, aber nicht Rußland. Obwohl sie wußten, daß es einen regen Handel der Ukraine und auch Georgiens mit Rußland gab. Und das hätte gestört. Aber sie haben sich nicht um Rußland gekümmert.
Rußland blieb also damals außen vor. Und so wandte sich Rußland schließlich China zu, was ganz verständlich ist. Und durch die Zusammenarbeit mit China wurden sie stärker. Sie wurden viel selbstbewußter, und sie arbeiteten mit Menschen zusammen, die sie viel mehr respektierten. Ich finde das interessant, daß die Chinesen es verstanden haben, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen, die Europäer und Amerikaner aber nicht.
Rasmussen: Bevor wir zu unseren letzten Fragen kommen, möchte ich noch einmal auf die Ukraine zurückkommen, weil das so wichtig ist. [Jens Jørgen Nielsen hat ein Buch „Ukraine im Spannungsfeld“ geschrieben.] Sie sagten, das Problem habe nicht mit der sogenannten Annexion der Krim begonnen, sondern mit einem Putsch gegen den amtierenden Präsidenten. Können Sie das etwas näher erläutern? Denn im Westen sagt jeder: „Das Problem begann, als Rußland die Krim annektierte.“
Nielsen: Nun, in der Ukraine gab es 2010 eine Präsidentschaftswahl, und die OSZE überwachte die Wahl und sagte, sie sei sehr gut abgelaufen, und die Mehrheit wählte Wiktor Janukowitsch. Wiktor Janukowitsch wollte nicht, daß die Ukraine Mitglied der NATO wird. Er wollte mit der Europäischen Union zusammenarbeiten. Aber er wollte auch weiterhin mit Rußland zusammenarbeiten. Das war im wesentlichen seine Haltung. Nun heißt es sehr oft, er sei korrupt gewesen. Das bezweifle ich nicht, aber nennen Sie mir einen Präsidenten, der nicht korrupt war! Das ist nicht der große Unterschied, das ist nicht die große Sache, würde ich sagen. Aber 2012 gab es auch Parlamentswahlen in der Ukraine, und Janukowitschs Partei erlangte mit einigen anderen Parteien auch dort die Mehrheit. Es gab eine Koalition, die Janukowitschs Politik stützte, nicht Mitglied der NATO zu werden.
Und es kam die Entwicklung, daß die Europäische Union und die Ukraine einen Vertrag über Zusammenarbeit unterzeichnen sollten. Doch es stellte sich heraus, daß dieser Vertrag für die Ukraine sehr teuer würde, weil er die Grenzen für Unternehmen aus der EU öffnen würde, aber die ukrainischen Unternehmen konnten mit den westlichen Unternehmen nicht konkurrieren.
Zweitens, und das ist das wichtigste, exportierte die Ukraine vor allem Industriegüter nach Rußland, und zwar aus dem östlichen Teil, aus Dniepropetrowsk oder Dniepro, wie es heute heißt, aus Donezk, aus Luhansk und aus Kryvyj Rih (Krivoj Rog), aus einigen anderen Gebieten, im wesentlichen aus dem östlichen, industriellen Teil der Ukraine.
Und sie stellten Berechnungen an, was wäre, wenn Sie diesem Abkommen beitreten. Rußland sagte: „Wir werden gewisse Zölle auf den Export erheben müssen, weil ihr gewisse zollfreie Importe aus der Europäischen Union hättet. Und wir haben bekanntlich kein Abkommen mit der Europäischen Union. Deshalb würde auf alles, was von euch kommt, Zölle erhoben.“ Und dann meinte Janukowitsch: „Na, na, na, das klingt ja nicht gut“, und er wollte, daß Rußland, die EU und die Ukraine sich zusammentun und ein „Dreiecksabkommen“ schließen. Aber die EU war strikt dagegen, sie wollte das nicht, obwohl man sagen könnte, daß der östliche Teil der Ukraine wirtschaftlich ein Teil Rußlands war. Sogar ein Teil der russischen Rüstungsindustrie war im östlichen Teil der Ukraine, und dort waren russischsprachige Menschen. Aber die Europäische Union sagte: „Nein, wir sollten in dieser Sache nicht mit Rußland zusammenarbeiten“, als Janukowitsch eine Zusammenarbeit zwischen der EU, der Ukraine und Rußland anstrebte, was für mich sehr vernünftig klingt. Das wäre nur natürlich, es wäre zum Vorteil aller drei. Aber die Europäische Union hatte einen sehr ideologischen Ansatz in dieser Frage. Sie sperrte sich also sehr gegen Rußland. Das stärkte auch den Verdacht der Russen, daß die EU nur ein Sprungbrett zur NATO-Mitgliedschaft wäre.
Und dann kam es zu einem Konflikt. Es gab täglich Demonstrationen auf dem Maidan-Platz in Kiew. Es waren viele Tausend Menschen dort, und es gab auch Schießereien, weil viele der Demonstranten bewaffnet waren. Sie hatten Waffen aus Kasernen im Westen gestohlen. Zu dem Zeitpunkt, als hundert Menschen gestorben waren, trafen sich Außenminister aus der EU, aus Frankreich, Deutschland und Polen, ein Vertreter Rußlands, Janukowitsch, ein Vertreter seiner Regierung und ein Vertreter der Opposition. Und sie schlossen eine Vereinbarung: „Nun gut, in einem halben Jahr sollen Wahlen stattfinden, und ihr sollt die Macht teilen. Leute aus der Opposition sollten Mitglieder der Regierung werden usw.“
Aber plötzlich brach das alles zusammen, und Janukowitsch verließ das Land, denn man sollte nicht vergessen – im Westen wird oft vergessen -, daß die Demonstranten bewaffnet waren. Sie haben Polizisten getötet, sie töteten Leute von Janukowitschs Partei der Regionen usw. Sie wurden immer als unschuldige, friedliebende Demonstranten dargestellt, aber das waren sie ganz und gar nicht. Und einige von ihnen hatten sehr zweifelhafte Ansichten, mit Nazi-Hakenkreuzen und dergleichen. Und Janukowitsch floh.
Dann kamen sie an die Macht. Sie hatten keine legitime Regierung, weil viele der Parlamentsabgeordneten aus den Regionen, die Janukowitsch unterstützt hatten, in den Osten geflohen waren. Das Parlament war also nicht in der Lage, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Trotzdem gab es einen neuen Präsidenten und eine neue Regierung, die im wesentlichen aus dem westlichen Teil der Ukraine stammte. Und das erste, was sie taten, war wie gesagt, die russische Sprache abzuschaffen, und dann sprachen sie über die NATO-Mitgliedschaft. Und Victoria Nuland, die stellvertretende Außenministerin der Vereinigten Staaten, war die ganze Zeit dabei. Es waren viele Leute aus dem Westen da, so daß die Lage kollabierte.
Rasmussen: Und seither gibt es Anschuldigungen, daß es Provokateure gab, die auf beiden Seiten Menschen töteten.
Nielsen: Ja, genau. Und das Interessante daran ist, daß es keinerlei Ermittlungen dazu gab, weil die neue Regierung nicht untersuchen wollte, wer sie getötet hat. Es war also inszeniert. Ich habe keinen Zweifel daran, daß es ein inszenierter Putsch war. Daran besteht kein Zweifel.
Das ist der grundlegende Kontext für Putins Entscheidung, die Krim als Teil Rußlands zu akzeptieren. Das sollte man sagen, aber gewöhnlich heißt es im Westen, daß Rußland die Krim einfach annektiert hat. Das ist nicht ganz richtig, denn es gab ein lokales Parlament, weil es ein autonomer Teil der Ukraine war, hatten sie ihr eigenes Parlament, und sie beschlossen, daß sie ein Referendum abhalten sollten, was sie im März [2014] taten. Und dann beantragten sie die Aufnahme in die Russische Föderation. Das ist keine Überraschung, auch wenn die ukrainische Armee nicht eingriff. Es gab eine ukrainische Armee, 21.000 ukrainische Soldaten waren dort. 14.000 dieser Soldaten traten in die russische Armee ein. Das sagt ein wenig darüber aus, daß es sich nicht um eine Annexion handelte, bei der ein Land einfach einen Teil des anderen Landes besetzt. Denn dieses zerklüftete Land, besonders der südliche Teil, war sehr pro-russisch, das war schon immer so.
Und so könnte man natürlich in Bezug auf das Völkerrecht eine Menge dazu sagen. Aber ich zweifle nicht daran, daß man es anders sehen kann, wenn man es aus der Sicht der Menschen betrachtet, die auf der Krim lebten. 80-90 Prozent hatten für die Partei der Regionen gestimmt, Janukowitschs Partei, eine pro-russische Partei, könnte man sagen. Fast 87 Prozent oder so haben für diese Partei gestimmt. Diese Partei hatte ein Zentrum in einem zentralen Gebäude in Kiew, das angegriffen und niedergebrannt wurde, wobei drei Menschen getötet wurden. Sie können sich also vorstellen, daß sie nicht sehr glücklich darüber waren, um es mal so zu formulieren. Sie waren nicht sehr glücklich über die neue Regierung und die neue Entwicklung. Natürlich nicht. Sie haßten es. Und was ich am Westen sehr kritisch finde, ist, daß sie diese schrecklichen Dinge in der Ukraine einfach hingenommen haben, nur um diese Beute zu bekommen, die Ukraine in die NATO zu bekommen.
Und Putin war sich bewußt, daß er nicht überleben könnte, nicht einmal physisch, aber sicherlich auch nicht politisch, wenn Sewastopol, der Hafen für die russische Flotte, ein NATO-Hafen würde. Das war unmöglich. Ich kenne Leute aus dem Militär, die mir sagten: „Nein, niemals. Das ist undenkbar.“ Könnten die Chinesen San Diego in den Vereinigten Staaten übernehmen? Nein, natürlich nicht. Es versteht sich von selbst, daß so etwas nicht passiert.
Was dem Westen also fehlt, ist nur ein bißchen Realismus, wie Supermächte denken, und über rote Linien von Supermächten. Denn wir haben im Westen eine Vorstellung von der neuen liberalen Weltordnung, das klingt sehr schön, wenn man in einem Büro in Washington sitzt. Es hört sich so schön und einfach an, aber wenn man hinausgeht und diese liberale Weltordnung schaffen will, ist das nicht so einfach. So kann man es nicht machen, schon gar nicht so, wie sie es in der Ukraine gemacht haben.
Rasmussen: Durch Regimewechsel?
Nielsen: Ja, Regimewechsel.
Rasmussen: Ich habe noch zwei Fragen, die letzten Fragen. Die Organisation Russisch-Dänischer Dialog, die Sie leiten, und das Schiller-Institut in Dänemark waren zusammen mit dem Chinesischen Kulturzentrum in Kopenhagen Mitveranstalter dreier sehr erfolgreicher Konzerte des musikalischen Dialogs der Kulturen, mit Musikern aus Rußland, China und vielen anderen Ländern. Und Sie sind außerordentlicher Professor für kulturelle Unterschiede. Wie sehen Sie das? Wie würde ein verstärkter kultureller Austausch die Situation verbessern?
Nielsen: Nun, es kann sich nur verbessern, denn wie ich Ihnen schon sagte, haben wir sehr wenig davon. Daher bin ich sehr, sehr glücklich über diese Zusammenarbeit, weil ich denke, daß solche musikalischen Veranstaltungen sehr unterhaltsam und sehr interessant sind, auch für viele Dänen. Denn wenn man die Sprache der Musik hat, ist das besser als die Sprache der Waffen, wenn ich das mal so sagen darf. Aber ich denke auch, wenn wir uns treffen, wenn wir die Musik des anderen hören und Kultur in Form von Filmen, Literatur, Gemälden, was auch immer teilen, dann ist das etwas ganz Natürliches, und es ist unnatürlich, das nicht zu haben.
Wir haben sie nicht, vielleicht weil einige Leute das so wollen, weil sie eine Art angespannte Lage wollen. Sie möchten das nicht. Aber ich denke – es ist natürlich nur eine Kleinigkeit -, doch ohne diesen kulturellen Austausch wird es uns sehr, sehr schlecht gehen. Wir werden eine Welt haben, die viel, viel schlechter ist, denke ich, und wir sollten lernen, die kulturellen Ausdrucksformen anderer Menschen zu genießen.
Wir sollten lernen, sie zu akzeptieren, und wir sollten auch lernen, zu kooperieren und gemeinsame Wege zu finden. Wir sind verschieden. Aber wir haben auch viele Gemeinsamkeiten, und es ist sehr wichtig, daß wir nicht vergessen, wir haben auch mit den Russen und den Chinesen, mit allen anderen Völkern viele Gemeinsamkeiten, die wir nie vergessen sollten. Im Grunde genommen haben wir die grundlegenden Werte gemeinsam, auch wenn man Hindu, Konfuzianer oder russisch-orthodox ist, wir haben viele Gemeinsamkeiten. Und wenn man solche Begegnungen hat, z.B. in der Kultur, in der Musik, dann glaube ich, daß man sich dessen bewußt wird, denn plötzlich ist es viel einfacher, Menschen zu verstehen, wenn man ihre Musik hört. Vielleicht muß man ein paarmal hinhören, aber dann wird es sehr, sehr interessant. Man wird neugierig auf die Instrumente, auf die Art zu singen und was auch immer es ist. Ich hoffe also, daß die Corona-Situation es uns bald ermöglicht, weitere Konzerte zu geben. Ich denke, das sollten wir, denn sie sind auch in Dänemark sehr beliebt.
Rasmussen: Ja. Wie Schiller schrieb, gelangen wir durch die Schönheit zur politischen Freiheit. Wir können auch sagen, daß wir durch die Schönheit zum Frieden gelangen können.
Nielsen: Ja, ja, ja.
Rasmussen: Das Schiller-Institut und Helga Zepp-LaRouche, seine Gründerin und internationale Präsidentin, führen eine internationale Kampagne zur Verhinderung des Dritten Weltkriegs, für Frieden durch wirtschaftliche Entwicklung und einen Dialog zwischen den Kulturen. Wie sehen Sie die Rolle des Schiller-Instituts?
Nielsen: Nun, ich kenne es. Wir haben schon zusammengearbeitet. Ich denke, daß Ihre grundlegenden Forderungen, die Appelle für eine globale Entwicklung, sehr, sehr interessant sind, und ich teile die grundsätzliche Sichtweise. Es wird vielleicht ein bißchen schwierig. Der Teufel steckt im Detail. Aber im Grunde denke ich, wenn man über die Seidenstraße spricht, über diese chinesischen Programme, die Gürtel- und Straßenprogramme, da sehe ich eine viel erfolgreichere Entwicklung, als wir sie zum Beispiel in Afrika mit der europäischen Entwicklungshilfe gesehen haben. Denn ich habe gesehen, wie viele westlich dominierte Entwicklungsprogramme die Entwicklung in Afrika und anderen Teilen der Welt verzerrt haben, sie verzerren die Entwicklung. Ich bin nicht unkritisch gegenüber China, aber ich sehe natürlich sehr positive Perspektiven im Gürtel- und Straßen-Programm. Ich sehe sehr, sehr gute Perspektiven. Schauen Sie sich zum Beispiel die Eisenbahnen in China an, die Hochgeschwindigkeitszüge: Es sind viel mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Ich denke, es gibt einige Perspektiven, die vor allem für die Menschen in Asien interessant sind.
Aber letztendlich wird es auch Menschen in Europa ansprechen, denn ich glaube, daß dieses Modell immer mehr an Bedeutung gewinnt. Es beginnt schon im östlichen Teil, einige osteuropäische Länder sind daran interessiert. Ich glaube also, daß es sehr interessant ist. Ihre Standpunkte, denke ich, sind sehr relevant, auch deshalb, weil wir im Westen in einer Sackgasse stecken, so daß die Menschen sowieso nach neuen Perspektiven suchen. Und ich halte das, was Sie vorlegen, für sehr, sehr interessant.
Wie es in Zukunft aussehen könnte, das ist schwer zu sagen, weil die Dinge schwierig sind. Aber ich teile die grundlegenden Fragen, über die Sie nachdenken, und was ich über das Schiller-Institut gehört habe, auch weil Sie die Bedeutung von Toleranz betonen. Sie betonen die Bedeutung einer multikulturellen Gesellschaft – daß wir den anderen nicht in unserem Sinn verändern sollten. Wir sollten auf der Grundlage gegenseitiger Interessen zusammenarbeiten und uns nicht gegenseitig verändern. Wie ich bereits sagte, sehe ich darin eines der wirklich großen Probleme der westlichen Denkweise, wonach wir entscheiden sollen, was in der Welt geschehen soll – so als dächten wir immer noch, wir seien Kolonialmächte, wie es etwa ein Jahrhundert lang war. Aber diese Zeiten sind vorbei. Es liegen neue Zeiten vor uns, und wir sollten neue Wege des Denkens finden. Wir sollten neue Perspektiven finden.
Und ich glaube, es gilt auch für den Westen, daß wir so nicht weiterleben können. Wir können nicht so weitermachen, denn es wird entweder Krieg geben oder Sackgassen und überall Konflikte.
Man sollte sich diese Dinge als Mensch aus dem Westen betrachten. Ich finde es traurig, wenn man sich Afghanistan, Irak, Libyen und diese Länder ansieht, in gewissem Maße auch Syrien, wo der Westen versucht hat, Regimewechsel herbeizuführen oder zu diktieren, was passiert. Das ist gescheitert. Ich denke, das ist für jedermann offensichtlich. Wir brauchen eine neue Denkweise. Und das, was das Schiller-Institut vorgelegt hat, ist in dieser Hinsicht sehr, sehr interessant.
Rasmussen: Wenn Sie davon sprechen, andere Menschen nicht zu verändern, ist einer unserer wichtigsten Punkte, daß wir uns selbst herausfordern müssen, uns zu verändern. Wir müssen uns wirklich bemühen, unser kreatives Potential zu entwickeln und einen Beitrag zu leisten, der möglicherweise auch internationale Auswirkungen hat.
Nielsen: Ja, auf jeden Fall.
Rasmussen: Das Schiller-Institut wird in den nächsten Wochen alle Hebel in Bewegung setzen, um die Vereinigten Staaten und die NATO zu ernsthaften Verhandlungen zu bewegen. Und Helga Zepp-LaRouche hat die USA und die NATO aufgefordert, die von Rußland vorgeschlagenen Verträge zu unterzeichnen und andere Wege zur Verhinderung eines Atomkriegs zu beschreiten. Wir hoffen, daß auch Sie, unsere Zuschauer, alles tun werden, was in Ihrer Macht steht, und unter anderem dieses Video verbreiten.
Gibt es noch etwas, was Sie unseren Zuschauern sagen möchten, bevor wir schließen, Jens Jørgen?
Nielsen: Nein, nein. Ich glaube, wir haben jetzt schon eine Menge geredet. Nein, ich denke nur, daß das, was Sie darüber gesagt haben, die USA und Rußland an den Verhandlungstisch zu bringen, für jeden vernünftigen, klardenkenden Menschen im Westen offensichtlich ist, daß dies das einzig Richtige ist. Deshalb unterstützen wir es natürlich zu hundert Prozent.
Rasmussen: Okay. Vielen Dank, Jens Jørgen Nielsen.
Mit Blick auf die Gespräche zwischen Rußland, den USA und der NATO – die bisher „schrecklich verlaufen“ – nannte Helga Zepp-LaRouche zwei alternative Ansätze für die Beziehungen zwischen den Nationen. Der Versailler Vertrag am Ende des Ersten Weltkriegs hat mit der heutigen Haltung der USA und der NATO die Auffassung gemeinsam, daß die Sieger eines Krieges als unipolare Macht die Bedingungen des Friedens diktieren können. Dieser unverhohlene Anspruch auf Weltherrschaft ignoriert die legitimen Wünsche anderer Nationen und fordert deren Unterordnung unter die unipolare Macht. Dies ist typisch für die „Arroganz der Macht“ der heutigen globalistischen Kriegsfalken, die behaupten, die USA hätten „den Kalten Krieg gewonnen“ und hätten daher das Recht, die dominierende Weltmacht zu sein.
Im Gegensatz dazu basierte der Westfälische Friede, der 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendete, auf der Idee, daß die Anerkennung der „Interessen der anderen“ der Schlüssel zu dauerhaftem Frieden ist. Der Umstand, daß die US-Verhandlungsführer die Legitimität der Sicherheitsbedenken von Präsident Putin bisher rundweg abgelehnt haben, wird von Rußland nicht akzeptiert werden. Zwar sei es besser zu reden, als nicht zu reden, aber die Haltung der USA in diesen Gesprächen habe „die nukleare Schwelle gesenkt“, was den Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Krieges wahrscheinlicher mache.
„Ungerechtigkeit irgendwo ist eine Bedrohung für die Gerechtigkeit überall“
Internationales Seminar:
17. Januar 2022, am Gedenktag von Martin Luther King
Dennis Speed — Moderator, Schiller Institute Helga Zepp-LaRouche — Founder and President of The Schiller Institute Dr. Joycelyn Elders — former United States Surgeon General Marcia Merry Baker — Editorial Board, Executive Intelligence Review Graham Fuller — former CIA Official and Islamic Scholar Ray McGovern — Analyst, Central Intelligence Agency (CIA-ret.), Co-Founder, Veteran Intelligence Professionals for Sanity (VIPS) Dr. Matin Baraki — Center for Conflict Research and the Center for Near and Middle East Studies, Institute for Political Science, Philipps-University, Marburg, Germany Dr. Shah Mehrabi — Member of Board of Governors of Central Bank of Afghanistan and Chairman of Audit Committee Qasim Tarin — Co-founder, Unity and Freedom Movement of Afghanistan
Zu Beginn des Jahres 2022 sollten wir auf der ganzen Welt nicht nur an Martin Luther King denken, sondern auch an seine Mission: die Errichtung einer „geliebten Gemeinschaft“ der gesamten Menschheit. Wir müssen erkennen, daß die größte Krankheit, die die Menschheit bedroht, die „verwerfliche Gleichgültigkeit“ ist, die sich am spektakulärsten im vorsätzlichen Aushungern von Millionen Menschen in Afghanistan „im Namen der Menschenrechte“ zeigt. Und wenn man zuläßt, daß anderen ein solches Unrecht widerfährt, wird das gleiche Unrecht früher oder später auch einem selbst widerfahren.
Bei einem schrecklichen Brand in der Bronx sind gerade siebzehn Menschen ums Leben gekommen. Es gab mehr als zwei Dutzend zuvor gemeldete Verstöße in diesem Gebäude. Unter den Toten waren neun Kinder. Aber in Afghanistan sind Hunderttausende von Kindern dabei, zu verhungern. Die Ursache für den Tod unschuldiger Kinder in Afghanistan und in der Bronx ist dieselbe: Die Ursache ist eine verwerfliche Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, ob sie überleben würden oder sollten.
Einst strebten die Nationen nach Wohlstand für alle Bürger; man nannte es „das Gemeinwohl, für uns und unsere Nachkommen“. Jetzt, da wir uns weigern, die vergeblichen Versuche der Wall Street und der Londoner City zu stoppen, ihr bankrottes System fortzusetzen, droht täglich ein Massensterben in der transatlantischen Welt. Man sagt uns, daß das Massensterben leider „normal“ sein wird; es wird „endemisch“ in Form von Pandemien, Kriegen oder „extremen Ereignissen“ sein. Wenn das so ist, dann muß das eine direkte Folge unserer verwerflichen Gleichgültigkeit sein, denn wir hätten die Kranken, die Hungrigsten, die Schwächsten in der Welt zuerst behandeln können, aber statt dessen haben wir uns entschieden, es nicht zu tun, und tun es immer noch nicht.
Wir sagen „Nein!“ zu diesem Pakt mit der Verzweiflung und dem Tod. Es gibt einen Plan mit dem Namen „Operation Ibn Sina“, der vom Schiller-Institut entwickelt wurde, um die Ungerechtigkeit in Afghanistan zu beseitigen und auf diese Weise eine gemeinsame weltweite Anstrengung zu unternehmen, um die eklatanten Ungerechtigkeiten in der Gesundheitsversorgung und in anderen Bereichen abzubauen. Die Freigabe der neun Milliarden Dollar für Afghanistan ist nur der Anfang.
Sie haben es in der Hand, die Operation Ibn Sina in die Tat umzusetzen, indem Sie sich uns anschließen und die verdorbene Gleichgültigkeit ablehnen. Der Weg, Ungerechtigkeit zu besiegen, besteht darin, Gerechtigkeit in der Welt zu schaffen, und zwar jetzt. Auf diese Weise kann vielleicht der ungerechte Tod derer, die durch das Feuer in der Bronx, durch die Hungersnot in Afghanistan und durch die Torheit der zum Scheitern verurteilten imperialen Ambitionen in der ganzen Welt gestorben sind, die Inspiration für die Schaffung der „Geliebten Gemeinschaft“ sein, die die Menschheit wirklich braucht und verdient.
Im Folgenden finden Sie den Text eines Artikels, der heute von TASS veröffentlicht wurde und auf einem Interview mit Richard Black vom Schiller-Institut basiert.
Experte: Die Erklärung der nuklearen „Fünf“ bedeutet, dass die Länder gemeinsame Herausforderungen bewältigen können
Richard Black, [ein] Sprecher des Schiller-Instituts, glaubt, daß die Länder zusammenarbeiten können, um einen Atomkrieg zu vermeiden und eine stabile Entwicklung zu gewährleisten
NEW YORK, 6. Januar. / TASS Grigory Sapozhnikov
Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs der „Fünf“ Nuklear[-mächte] (Rußland, Großbritannien, China, die Vereinigten Staaten und Frankreich) weist darauf hin, daß die Länder zusammenarbeiten könnten, um strategische Probleme und Krisen von außergewöhnlichem und unerwartetem Charakter zu lösen. Diese Meinung wurde in einem Interview gegenüber einem TASS-Korrespondenten von Richard Black geäußert, einem Vertreter des Schiller-Instituts in New York.
Die Erklärung der „fünf“ Länder [d.h. die fünf permanenten Mitglieder P5] des UN-Sicherheitsrates sei in zweierlei Hinsicht positiv. Erstens bestätigten alle fünf Länder die frühere gemeinsame Erklärung von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan, daß ein Atomkrieg nicht gewonnen werden könne und niemals geführt werden dürfe, wie dies auch in jüngerer Zeit von den Präsidenten Joe Biden und Wladimir Putin erklärt wurde. Zweitens zeige die Erklärung der „Fünf“ des Sicherheitsrates, daß es für diese Länder möglich ist, gemeinsam zu handeln, um auch andere dringende und komplizierte strategische Probleme zu lösen, die das Überleben der Zivilisation betreffen.
Dem Sprecher des Instituts zufolge hat der russische Präsident Putin die Notwendigkeit auf die aktuell dringende Tagesordnung gesetzt, „das gegenwärtige Abgleiten in eine nukleare Konfrontation zwischen den USA und der NATO auf der einen, sowie Russland auf der anderen Seite zu stoppen“. Black betonte die Bedeutung der von Präsident Putin geforderten Unterzeichnung von Vertragsentwürfen über rechtsverbindliche Sicherheitsgarantien durch die USA und das Nordatlantische Bündnis. „Die vom russischen Präsidenten vorgeschlagenen Vertragsentwürfe sind eine Aufforderung zum unmittelbaren Handeln innerhalb der nächsten Tage“, sagte Black.
Black wertete die Erklärung der „Fünf“ generell als einen Schritt in die richtige Richtung. Die „Fünf“ könnten nun „an besonderen, außergewöhnlichen Problemen arbeiten, wie der Situation in Afghanistan und dem Kampf gegen die Pandemie“, sagte er. Die Länder könnten sowohl zusammenarbeiten, um einen Atomkrieg zu verhindern, als auch um eine stabile Entwicklung zu gewährleisten. Die Frage sei nur: „Werden sie kooperieren?“
Helga Zepp-LaRouche, Präsidentin des Schiller-Instituts, war am Mittwoch, dem 5. Januar 2022, zu Gast im CGTN-Podcast „World Today“. Es folgt ein Transkript von EIR.
CGTN: Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums sagte, Litauen habe zu Recht seinen Fehler in Bezug auf Taiwan zugegeben und China habe Litauen aufgefordert, zur Ein-China-Politik zurückzukehren. Der Sprecher Wang Wenbin reagierte damit auf die Rüge des litauischen Präsidenten Gitanas Nausėda gegen die Entscheidung seiner Regierung, die Eröffnung einer Taiwan-Vertretung in seinem Land zuzulassen. Präsident Nausėda sagte am Dienstag, es sei ein Fehler gewesen, der chinesischen Region Taiwan zu erlauben, ein Büro in Vilnius unter eigenem Namen zu eröffnen. Gegenüber einem lokalen Radiosender sagte er: „Der Name des Büros ist zum Schlüsselfaktor geworden, der jetzt unsere Beziehungen zu China stark beeinflusst.“
China hatte scharfen Protest gegen die Genehmigung der Einrichtung des sogenannten „Taiwan-Vertretungsbüros“ in Litauen erhoben und im November die diplomatischen Beziehungen zu Litauen herabgestuft.
Mehr dazu erfahren wir jetzt von Helga Zepp-LaRouche, der Gründerin des Schiller-Instituts, einer politischen und wirtschaftlichen Denkfabrik in Deutschland.
Vielen Dank, Helga, daß Sie wieder mit uns sprechen.
HELGA ZEPP-LAROUCHE: Ja, hallo.
CGTN: Zunächst einmal: Bedeuten die Äußerungen des litauischen Präsidenten, daß die Spannungen in dieser Frage nachgelassen haben?
ZEPP-LAROUCHE: Es ist auf jeden Fall gut, daß er die Genehmigung des Namens zurückgenommen hat, aber es geht hier nicht um Nominalismus. Die Frage ist nicht die Bezeichnung, die Frage ist die Ein-China-Politik, die seit 1971 international anerkannt ist. Die Frage ist, ob die Vereinigten Staaten, die Briten und andere ein kleines Land mit drei Millionen Einwohnern als Spielball in ihrer geopolitischen Konfrontation benutzen können. US-Außenminister Blinken versucht, all die kleinen (baltischen) Länder in eine sogenannte „Allianz der Demokratien“ zu drängen. Aber ich denke, das ist nicht gut für die Menschen in Litauen. Es ist nicht in ihrem Interesse.
CGTN: Sie haben richtig darauf hingewiesen, daß es nicht nur um den Namen geht, vielmehr geht es um das Prinzip der Ein-China-Politik. Aber was hat der Unterschied zwischen den Äußerungen des litauischen Präsidenten und den gegenläufige Maßnahmen der litauischen Regierung mit der Art des Regierens und mit der Innenpolitik im Lande zu tun? Denn ich glaube, der litauische Ministerpräsident, der das Kabinett führt, wurde bei den Wahlen 2019 vom Präsidenten geschlagen.
ZEPP-LAROUCHE: Laut den litauischen Medien ist die Unterstützung für die Regierung stark rückläufig. Nur 17,3 % der Menschen gaben in einer Umfrage an, daß sie der Regierung vertrauen, während 47,8 % sagten, sie mißtrauen der Regierung. Man kann jetzt sehen, wie Litauen im Zusammenhang mit der NATO-Erweiterung zur Einkreisung Rußlands betrachtet werden muß. Ich meine, man sollte sich die Dokumentation ansehen, die das Schiller-Institut gerade erstellt hat: Absolut authentische Dokumente beweisen inzwischen, daß US-Außenminister [James] Baker am 9. Februar 1990 versprochen hat, daß sich die NATO keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde. Aber wie wir jetzt wissen, sind seither 14 Länder der NATO beigetreten, so daß Präsident Putin jetzt die Unterzeichnung von zwei Verträgen fordert, damit dies aufhört, weil es die Sicherheitsinteressen Rußlands beeinträchtigt. Litauen ist ein Opfer der NATO-Osterweiterung, und es wurden Milliarden von Dollar in die Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen gesteckt, um die Bevölkerung der osteuropäischen Länder davon zu überzeugen, daß sie den „westlichen Werten“ folgen sollten.
CGTN: Um noch einmal auf die Taiwan-Frage zurückzukommen: Was für ein schlechtes Beispiel ist Litauens Entscheidung, die Eröffnung dieses Büros zuzulassen – in dem Sinne, daß dadurch die Taiwan-Frage, die eigentlich eine innere Angelegenheit Chinas sein sollte, gewissermaßen internationalisiert wird?
ZEPP-LAROUCHE: Natürlich ist es schlimm, weil Litauen aufgrund dieser Politik auch aus der 17+1-Gruppe ausgetreten ist – das sind die mittel- und osteuropäischen Länder, die mit der Belt and Road Initiative zusammenarbeiten. Allerdings ist es wiederum nicht wirklich so bedeutend, weil es viele Länder in Europa gibt, die an der Ein-China-Politik festhalten und die es in ihrem eigenen Interesse sehen, mit der Belt and Road Initiative zusammenzuarbeiten. Es ist zwar schlecht, aber nicht dramatisch.
CGTN: Litauen hat sich einmal an die Europäische Union wegen seiner Spannungen mit China um Hilfe gewandt. Welchen Standpunkt vertritt die EU in dieser Frage, denn der chinesische Außenminister Wang Yi sagte kürzlich in einem Presseinterview, in Europa herrsche eine „kognitive Spaltung“ gegenüber China, da es versuche, sowohl ein Partner zu sein, als auch China als Gegner zu sehen. Stimmen Sie mit Wang Yi überein? Wie steht die EU in dieser Hinsicht da?
ZEPP-LAROUCHE: Ich halte Wang Yi für einen sehr guten Diplomaten. Ich könnte leicht noch viel schärfere Worte für eine Person finden, deren Denken gespalten ist. Ich denke also, daß er sich sehr diplomatisch ausgedrückt hat.
Ich meine, es gibt viele Menschen in Europa, die es als ihr Eigeninteresse ansehen, gute Beziehungen zu China zu haben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Leute, die sozusagen nur NATO-Vertreter innerhalb der EU sind. Ich denke also, daß viele nicht das Rückgrat haben, sich dem Druck der USA und Großbritanniens zu widersetzen, aber es ist zunehmend eine Frage der Glaubwürdigkeit des Westens im allgemeinen. Das gilt zum Beispiel auch für die Politik gegenüber Afghanistan, die absolut widerlich ist.
Der Inhalt der Politik wird somit immer wichtiger, und ich denke, Europa wird sich entscheiden müssen, ob es seinem Eigeninteresse folgt oder nicht.
CGTN: Das ist in der Tat die Eigenständigkeit, von der führende Politiker der Europäischen Union seit langem sprechen. Ich danke Ihnen.
Der folgende Text ist die bearbeitete Abschrift eines Interviews mit Dr. Shah Mohammad Mehrabi, das Gerald Belsky und Michael Billington von EIR am 15. Dezember 2021 führten. Dr. Mehrabi ist seit 2002 Mitglied des Gouverneursrats der Da Afghanistan Bank, der afghanischen Zentralbank. Seit 1992 ist er Professor für Betriebs- und Volkswirtschaftslehre am Montgomery College in Maryland und seit 2003 Dekan des Fachbereichs.
Gerald Belsky: Herr Dr. Mehrabi, können Sie uns etwas über Ihren Hintergrund und Ihr Verhältnis zur derzeitigen Taliban-Regierung erzählen?
Dr. Mehrabi: Ich danke Ihnen, Gerry, und ich möchte auch dem Schiller-Institut danken für alle seine Bemühungen, etwas für die Freigabe der afghanischen Reserven zu tun und ein positives Ergebnis bei der Beseitigung der Armut zu erzielen, die entstanden ist und fortbestehen wird, wenn die Vereinigten Staaten und die europäischen Länder, die zum jetzigen Zeitpunkt die gesamten Auslandsreserven Afghanistans halten, keine konkreten Maßnahmen ergreifen.
Ich bin Wirtschaftswissenschaftler, und als solcher war ich fast 20 Jahre lang Mitglied des sogenannten Obersten Rates, des Leitungsgremiums der Zentralbank von Afghanistan. Außerdem war ich als leitender Wirtschaftsberater für zwei Finanzminister tätig und befaßte mich mit der Erzielung von Einnahmen, aber auch mit den Staatsausgaben, als ich im Finanzministerium war. Während meiner Tätigkeit im Finanzministerium blieb ich weiter Mitglied des Obersten Rates der Zentralbank, eines Gremiums, das dem Board of Governors der Federal Reserve Bank der Vereinigten Staaten sehr ähnlich ist. Er besteht aus sieben Vorstandsmitgliedern, und ich bin auch Vorsitzender des Prüfungsausschusses der Zentralbank von Afghanistan.
Ich habe mich sehr aktiv um Reformen bemüht, so wie wir es bei meiner Rückkehr taten, als ich zum ersten Mal nach Afghanistan eingeladen wurde und versucht habe, diese Finanzinstitution zu reformieren und insbesondere dafür zu sorgen, daß wir zumindest eine funktionierende und effektive Zentralbank haben. Vor 2003-04 hatte die Zentralbank eine Doppelfunktion. Sie war sowohl eine Geschäftsbank als auch eine Staatsbank. Die Geschäftsbankfunktion wurde den neu gegründeten Geschäftsbanken übertragen, und die Zentralbank Afghanistans wurde als unabhängige Einrichtung neu strukturiert und nahm ihre Tätigkeit Anfang der 2000er Jahre auf, 2003, 2004 und 2005.
Die Folgen des Einfrierens der Devisenreserven
Billington: Das Hauptthema, mit dem Sie sich ebenso wie wir befassen, ist die Tatsache, daß bei der US-Notenbank und mehreren europäischen Banken Reserven in Höhe von 9,5 Milliarden Dollar liegen, die der afghanischen Zentralbank gehören. Dieses Geld gehört nicht den Banken, die es halten, sondern wird aus politischen Gründen und wegen Meinungsverschiedenheiten mit der neuen Regierung in Kabul eingefroren, was im Grunde genommen eine Form der illegalen Wirtschaftskriegführung darstellt. Können Sie beschreiben, wie sich das auf die Menschen in Afghanistan auswirkt und welche Schritte Sie ergriffen haben, um zu versuchen, diese Gelder freizubekommen?
Dr. Mehrabi: Das Einfrieren der afghanischen Devisenreserven ist ein wichtiger Punkt. Es hat zur wirtschaftlichen Instabilität beigetragen, die ich bereits im September vorausgesagt hatte. Ich habe eine Reihe von Ereignissen vorhergesagt und sie sind alle eingetreten, denn jetzt gibt es Daten, die meine Vorhersagen vom September bestätigen. Damals sagte ich voraus, daß die Währung abgewertet würde – seit August wurde sie um mehr als 14% abgewertet. Ich sagte auch voraus, daß die Lebensmittelpreise zweistellig steigen würden – und auch das ist eingetreten. Der Weizenpreis ist um mehr als 20% gestiegen, der Mehlpreis um über 30%, der Preis für Speiseöl um 60% und der Benzinpreis um 74%.
Ich habe damals auch gesagt, daß der Bankensektor Liquidität braucht, und um Liquidität zu schaffen, ist es sehr wichtig, daß die Reserven freigegeben werden, um die Preise zu stabilisieren und einen weiteren Verfall des Afghani, der Landeswährung, zu verhindern.
Die 14%ige Währungsabwertung trifft vor allem die Kaufkraft der Verbraucher. Sie bringt die Menschen in eine Lage, in der sie die grundlegenden Dinge des Lebens nicht mehr kaufen können. Außerdem sind die Preise für all diese Güter gestiegen.
Ich habe auch gesagt, daß die Importe zurückgehen würden, und das ist eingetreten. Die Nachfrage nach diesen importierten Gütern ist zurückgegangen, und der Verbrauch ist erheblich gesunken, weil die Menschen keinen Zugang zu ihrem eigenen Geld auf der Bank haben. Hinzu kommt, daß sie keine Arbeit haben. Viele haben ihre Arbeit verloren; sie haben kein Einkommen, und dann haben die höheren Preise die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen weiter gedämpft.
Das ist es also, was Sie sehen: Es entstanden Hunger und Verhungern.
Ich habe auch gesagt, daß Handel gar nicht stattfindet. Tatsächlich sind die Einfuhren aus Pakistan im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 46% zurückgegangen. Die Exporte sind sehr dürftig – Trockenfrüchte, Teppiche usw. Das ist zwar einigermaßen stabil geblieben, hat aber keine ausreichenden Devisenreserven geschaffen. Die Löhne sind gesunken.
Um auf die Auswirkungen des Einfrierens der afghanischen Devisenreserven zurückzukommen: Wir sehen bereits, daß dies zu großer Armut geführt hat.
Ich schlage vor, der afghanischen Zentralbank einen begrenzten, überwachten und bedingten Zugang zu ihren eigenen Reserven zu gewähren. Das sind die Reserven Afghanistans, sie gehören niemand anderem, sondern dem afghanischen Volk. Sie sollten Zugang zu ihren Reserven haben, und diese Devisenreserven sollten für Versteigerungen verwendet werden. Warum? Weil Versteigerungen dazu dienen, die Abwertung des Afghani gegenüber dem Dollar und anderen ausländischen Währungen zu verhindern und auch die Kaufkraft der Afghanen zu erhöhen und zu verhindern, daß sie Tag für Tag weiter sinkt. Die afghanische Zentralbank wird ohne Versteigerungen nicht in der Lage sein, die Preisstabilität im Inland zu gewährleisten.
Ohne die Freigabe dieser Reserven wird keine Preisstabilität zustande kommen. Eine der Hauptaufgaben der afghanischen Zentralbank ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten, und das kann sie nicht. Damals schlug ich vor, und ich schlage es immer noch vor, von den 7,1 Mrd. Dollar [die bei der US-Notenbank liegen] monatlich 150 Millionen Dollar freizugeben; heute sage ich 200 Mio. Dollar, weil die Reserven Afghanistans erheblich geschrumpft sind. Das entspricht etwa der Hälfte der Reserve, die monatlich zur Stabilisierung der Wirtschaft erforderlich ist. Ich habe auch gesagt, daß die Vereinigten Staaten in der Lage sein werden, die ausschließliche Verwendung dieser Mittel für die Stabilisierung der Währung zu überprüfen.
Die Auktionen werden elektronisch durchgeführt und die Transaktionen zwischen der Zentralbank und den Geschäftsbanken werden automatisch aufgezeichnet. Darüber hinaus habe ich vorgeschlagen, daß die Verwendung der Mittel von einer internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft kontrolliert werden könnte, die derzeit in Afghanistan tätig ist. Sollte es zu einer Veruntreuung kommen, könnte man die Mittel sperren.
Ein wichtiger Punkt dabei ist, daß wir versuchen wollen, mit den Mitteln den Wert des afghanischen Geldes zu stützen, damit die Menschen wichtige Waren und Dienstleistungen kaufen können. Ständig rufen mich Leute an, die sagen, daß sie sich Brot, das Grundnahrungsmittel für alle, nicht leisten können. Mein eigener Bruder ist Dekan an der Universität. Er wird zwar bezahlt, aber selbst er kann es sich nicht leisten, ohne unsere Hilfe durch Geldüberweisungen auszukommen – er kann nicht einmal das Nötigste kaufen. Es gibt viele Afghanen, die ständig darüber sprechen, daß sie keine normalen Waren kaufen können.
Wir müssen also in der Lage sein, die Bedürfnisse der einfachen Afghanen zu befriedigen, denn die Preise für Lebensmittel steigen. Und das läßt sich problemlos bewältigen, wenn wir die Freigabe dieser Reserve gestatten. Wichtig ist, daß wir aus Erfahrung wissen, was wir in der Vergangenheit im Hinblick auf die Freigabe der Mittel getan haben.
Jedes Mal, wenn wir eine Auktion durchführten, gelang es uns, die Währung zu stabilisieren und Preisstabilität zu erreichen. Die Bilanz der Zentralbank ist darin eindeutig. Die Zentralbank war in der Lage, den Preisanstieg in den beiden letzten Jahrzehnten meistens im einstelligen Bereich zu halten. Sehen Sie sich die empirischen Fakten an: Die Taliban versteigerten vor etwa drei Wochen 2,5 Mio. Dollar der 10 Mio. Dollar, die sie versteigern wollten, und diese Auktion resultierte noch am selben Tag in einer Aufwertung der Währung. Der Wert des Afghani stieg und blieb dann zwei Tage lang so. Aber 2,5 Mio. Dollar sind nicht ausreichend.
Die Zentralbank muß ständig intervenieren, um die Preisstabilität zu gewährleisten. Wenn sie das nicht tut, kommt es zu der Krise, die wir jetzt erleben. Wenn die Preise steigen, werden die Menschen verhungern, und dann wird es auch noch zu einer Hungersnot infolge der Dürre kommen. Die Menschen werden Afghanistan verlassen, und sie werden an die europäischen Türen klopfen, um aufgenommen zu werden.
Vorgeschlagene Modifizierung der Sanktionspolitik
Belsky: Sie fordern die Freigabe von 150 Millionen Dollar pro Monat aus den eingefrorenen Reserven, um mit Dollarauktionen den Wert der Währung zu stabilisieren. Wir glauben, damit könnten die westlichen Länder rechtfertigen, afghanische Gelder weiter einzubehalten, wozu sie weder rechtlich noch moralisch berechtigt sind. Sind Sie nicht auch der Meinung, daß sie aus Prinzip und moralischer Verpflichtung alle Gelder freigeben müssen?
Dr. Mehrabi: Ich habe gesagt, daß das Finanzministerium der Vereinigten Staaten seine Sanktionsgesetze klären und ändern muß. Ob das US-Finanzministerium die Rücklagen eines anderen Landes rechtmäßig einbehalten kann, ist meiner Meinung nach nicht klar. Das muß also geklärt werden. Im Bereich der humanitären Hilfe hat das Finanzministerium ein gewisses Maß an Flexibilität bewiesen, aber die Ausnahmeregelungen müssen weiter gefaßt werden als nur für humanitäre Zwecke. Das Finanzministerium hat Bedenken hinsichtlich der Finanzierung des Terrorismus, und andere haben die Frage nach der Kompetenz der [afghanischen] Regierung und ihrer Führungskräfte aufgeworfen. Ich denke, über all diese Fragen kann man diskutieren.
Es gibt eine Reihe von Modellen, die die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit angewendet haben. Dem Iran wurde die Freigabe von Geldern für Handelszwecke gestattet. Das U.S. Office of Foreign Asset Control wird ein gewisses Maß an Flexibilität zulassen müssen, um sicherzustellen, daß Ausnahmen gemacht werden, nicht nur für humanitäre Zwecke, sondern auch, um der Zentralbank Zugang zu ihren Reserven zu ermöglichen. Ich denke, man kann die Afghanen nicht bestrafen.
Wir reden über das Problem der Frauen usw. Frauen und Kinder sind die ersten, die darunter leiden. Sie sind nicht in der Lage, Waren und Dienstleistungen zu kaufen. Wenn wir einerseits argumentieren, daß wir humanitäre Hilfe leisten wollen, andererseits aber auch die Wirtschaft abwürgen, dann sind das zwei gegensätzliche Argumente. Die Argumente ergeben nicht wirklich einen Sinn. Einerseits sagt man, ich will humanitäre Hilfe leisten, aber andererseits werde ich die Wirtschaft abwürgen, so daß die einfachen Afghanen keinen Zugang zu Lebensmitteln und grundlegenden Gütern haben.
Humanitäre Hilfe ist gut, aber keine Lösung
Belsky: Sie haben meine nächste Frage bereits implizit beantwortet, aber ich werde sie trotzdem stellen. Wie Sie wissen, plant die Weltbank jetzt die Wiederherstellung der Hilfe in Höhe von 230 Mio. Dollar. Aber selbst dieser kleine Betrag soll über UNICEF und die Weltgesundheitsorganisation abgewickelt werden, statt über das afghanische Bankensystem zu laufen. Was halten Sie davon?
Dr. Mehrabi: Ich weiß nicht, wofür UNICEF das Geld verwenden wird, für welche Zwecke. Das habe ich bereits gesagt. Oder die WHO, und sogar das Welternährungsprogramm. Wenn es für den Kauf von Getreide und anderen Grundbedürfnissen verwendet wird, ist das gut. Aber humanitäre Hilfe ist keine Lösung, um die Wirtschaftstätigkeit wieder anzukurbeln. Humanitäre Hilfe ist, wie ich schon die ganze Zeit gesagt habe, zwar notwendig, aber eine Überbrückungsmaßnahme, und keine ausreichende Maßnahme, um die Wirtschaft insgesamt so weit zu bringen, daß die Gesamtnachfrage steigt, was für das Funktionieren der Wirtschaft und die Erzielung ausreichender Einnahmen für die tägliche Wirtschaftstätigkeit sehr wichtig ist.
Billington: Soweit ich weiß, wird durch eine oder einige der Sanktionen Afghanistan der Zugang zum Geldtransaktionssystem SWIFT verwehrt. Welche Folgen hat das für das Land?
Dr. Mehrabi: Das ist es, worüber sich die Geschäftsbanken beschweren. Die Geschäftsbanken hatten ein Fenster, durch das sie mit den entsprechenden Banken [in anderen Ländern] in Kontakt treten konnten. Und das wurde gestoppt. Das wurde vom US-Finanzministerium blockiert. Das Finanzministerium wollte es nicht zulassen. Und die Korrespondenzbanken zögern und zögern, sich an irgendwelchen Aktivitäten zu beteiligen, es sei denn, sie erhalten eine Genehmigung vom Finanzministerium.
Solange das US-Finanzministerium nicht für ein gewisses Maß an Flexibilität sorgt, einige Ausnahmen von den Sanktionen zuläßt und dieser SWIFT-Einheit erlaubt, die Transaktionen durchzuführen, werden wir wieder in dieselbe Situation geraten. Die Liquidität wird nicht vorhanden sein. Wir werden die Wirtschaft insgesamt abwürgen.
Nicht die Zentralbank umgehen!
Belsky: Herr Dr. Mehrabi, viele Personen und Organisationen haben erkannt, worauf Sie hinauswollen, nämlich daß humanitäre Hilfe ohne ein Bankensystem nicht funktionieren wird. Eine Person hat jedoch einen konkreten Vorschlag unterbreitet. 2019 hat Alex Yerden, der ehemalige Finanzattaché des US-Finanzministeriums in Kabul, einen Vorschlag unterbreitet, der möglicherweise hinter den Kulissen diskutiert wird.
Er schlägt vor, die Zentralbank zu umgehen, um zu vermeiden, daß die derzeitige afghanische Regierung Geld erhält, und eine private Zentralbank zu gründen, oder eine Geschäftsbank wie die Afghanistan International Bank oder eine andere Bank zu nutzen, in die ein Teil dieser illegal einbehaltenen Gelder fließen kann. Es wird vorgeschlagen, eine private Bank zu gründen, die einige der von Ihnen beschriebenen Aufgaben übernehmen soll, wie z.B. die Versteigerung von Geld zur Stützung der Währung. Was halten Sie von dieser Idee, eine private Zentralbank zu gründen, um die derzeitige Zentralbank zu umgehen?
Dr. Mehrabi: Wir haben etwa 20 Jahre in die Modernisierung und den Aufbau einer Zentralbank investiert, die verwaltungstechnisch in der Lage ist, auf der Grundlage des Gesetzes alle Aufgaben einer Zentralbank zu erfüllen. Dazu gehören die Aufsicht über die Zentralbank, die Ausgabe von Banknoten, die Funktion als Kreditgeber der letzten Instanz und die Bereitstellung von Liquidität für die Geschäftsbanken. Diese Funktionen können nicht von einer Geschäftsbank übernommen werden. Eine Geschäftsbank ist dazu da, Gewinne zu erzielen, während die Hauptfunktion einer Zentralbank nicht in der Rentabilität besteht. Auch kann eine Geschäftsbank nicht mit der Verantwortung einer Zentralbank betraut werden. Eine Zentralbank hat gut ausgebildetes Personal, das über die nötige Ausbildung und Erfahrung verfügt, um alle ihre besonderen Aufgaben auf der Grundlage des Gesetzes zu erfüllen. Das wurde bisher nicht geändert, es wird immer noch praktiziert.
Die Zulassung einer anderen Einrichtung oder einer parallelen Institution würde in hohem Maße zu einer Situation führen, die viel Verwirrung stiften wird und auf die eine oder andere Weise die Glaubwürdigkeit der Zentralbank in der Öffentlichkeit untergraben wird.
Die Ausgabe von Geld ist Sache der Zentralbank. Eine Geschäftsbank hat weder rechtlich noch anderweitig die Befugnis, Geld auszugeben oder dem System Liquidität zuzuführen. Sie kann keine Währung als Tauschmittel ausgeben. Dagegen wird die von der Zentralbank ausgegebene Währung akzeptiert, weil die Menschen dieser Währung als Tauschmittel oder Wertaufbewahrungsmittel vertrauen und sie als Rechnungseinheit verwenden.
Denken Sie daran, daß nicht nur der US-Dollar, sondern auch die afghanische Währung ein wichtiges Element ist, um Liquidität in die Wirtschaft zu bringen. Die Einrichtung einer parallelen Institution, um die Zentralbank abzuschaffen, wie es einige dieser Leute befürworten, ist also kein Schritt, der die armen Menschen, die einfachen Afghanen, aus der Misere retten wird, in der sie sich unverschuldet befinden.
Die Aussicht auf einen Bankenkollaps
Billington: Die UNO hat sich mit der Krise des Bankensystems befaßt. Die UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Deborah Lyons, hat dem UN-Sicherheitsrat am 17. November einen Bericht vorgelegt, in dem es heißt: „Die katastrophale humanitäre Lage im Land ist vermeidbar, da sie größtenteils auf die Finanzsanktionen zurückzuführen ist, die die Wirtschaft lahmgelegt haben.“ Ebenfalls im November erklärte das UN-Entwicklungsprogramm: „Das kommerzielle Bankensystem ist von entscheidender Bedeutung, selbst um die humanitären und anderen grundlegenden Programme fortzusetzen, die von den Vereinten Nationen, einigen NROs und anderen Partnern gefördert werden. Die wirtschaftlichen Kosten eines Zusammenbruchs des Bankensystems mit den damit verbundenen negativen sozialen Folgen wären also enorm.“ Das ist die Aussage des UN-Entwicklungsprogramms. Hat die UNO irgendwelche nennenswerten Schritte unternommen, um diese Katastrophe, die sie beschreiben, zu verhindern?
Dr. Mehrabi: Das ist eine gute Frage. Schauen wir uns an, was wir wissen. Ich möchte auch erwähnen, daß die UNAMA, die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan, 16 Mio. Dollar in bar als Teil der humanitären Hilfe für Afghanistan bereitstellen konnte. Diese Maßnahme haben sie also ergriffen.
Aber auch die UNAMA hat in den Augen vieler Afghanen keinen besonders guten Ruf, was Effizienz, Glaubwürdigkeit und Rechenschaftspflicht angeht. Wie dem auch sei, es wurden zweimal 16 Mio. Dollar zur Verfügung gestellt. Es wurden also etwa 32 Mio. Dollar in bar bereitgestellt, die fast ausschließlich für humanitäre Hilfe in Afghanistan bestimmt waren. Sie wurden nicht über die Zentralbank eingebracht. Die UNO spricht eindeutig vom Zusammenbruch des Systems, und ich denke, wenn sie über den Finanzsektor und die Zwänge redet, mit denen er konfrontiert ist, dann erkennen sie, daß die Liquidität sowohl der Geschäftsbanken als auch der Zentralbank erodiert ist.
Aber sie haben immer noch nicht genügend Maßnahmen ergriffen, um die Weiterleitung dieser Mittel an die Zentralbank zum Zweck der Versteigerung zu regeln. Wir sagen also, talk the talk, but walk the walk: Laßt den Worten Taten folgen. Ich glaube, das ist ein Thema, das in der UN zur Sprache gebracht werden muß. Die Erklärung der UN-Sonderbeauftragten zeigt deutlich, daß man sich dessen bewußt ist und versteht, daß es zu einem Zusammenbruch des Bankensystems kommen kann. Aber man muß konkrete Maßnahmen ergreifen, um den Zusammenbruch des Bankensystems zu verhindern. Was tut man in diesem Fall? Es wird nichts passieren, wenn man sich nur mit humanitärer Hilfe beschäftigt. Unternehmen und Haushalte werden keinen Zugang zu Bankeinlagen haben. Zunächst einmal haben sie gegenwärtig keinen Zugang zu ihren Bankeinlagen. Die Zentralbank hat strenge Beschränkungen für Geldabhebungen verhängt, weil sie nicht genügend Liquidität im System hat.
Wenn man sich also die bereits erwähnten internationalen Transaktionen ansieht, SWIFT usw. – all das ist weitgehend blockiert worden. Die Unternehmen sind nicht in der Lage, Gelder ins Ausland zu überweisen, um Importe zu bezahlen. Es kommt zu Engpässen in jeder erdenklichen Richtung. Die Aussichten sind natürlich sehr düster, es sei denn, die Vereinigten Staaten ergreifen Maßnahmen – in diesem Fall die Freigabe dieser Gelder, damit sie an die Zentralbank weitergeleitet werden können.
In diesem Stadium hat die Erschöpfung der internationalen Reserven zu einem Schlamassel geführt. Ich würde mir wünschen, daß die UN-Sonderbeauftragte sich genau ansieht, was wir in diesem Fall vorgeschlagen haben. Betrachten Sie eine ganz einfache Sache: Ökonomen betrachten in der Regel die Kosten und den Nutzen. Wie hoch sind die Kosten eines Zusammenbruchs des Bankensystems, und welchen Nutzen hätte es, dafür zu sorgen, daß das System gerettet wird?
Wieviel würden wir, d.h. Europa und die Vereinigten Staaten, dadurch gewinnen, wenn wir dafür sorgen, daß die Wirtschaft normal funktioniert, indem wir ihnen Zugang zu ihren Reserven gewähren und den Menschen, die vom EFRE [Europäischer Fonds für regionale Entwicklung] finanziert werden, weitere Liquidität in Form von Bargeld zukommen lassen. Der EFRE verfügt über eine Menge Mittel, die man für die Gehälter dieser Menschen verwenden könnte, die derzeit nicht bezahlt werden, so daß sie, wenn sie ihr Gehalt bekommen, es ausgeben können, um Waren und Dienstleistungen zu kaufen. Das wird helfen. Die Gesamtnachfrage würde aktiviert, und die Wirtschaft könnte den Multiplikatoreffekt nutzen, um Wirtschaftswachstum zu erzeugen.
Ein direkter Appell an Präsident Biden
Belsky: Dr. Mehrabi, Sie haben sich mit Mitgliedern des Kongresses getroffen, um sie zu drängen, Präsident Biden aufzufordern, die afghanischen Vermögenswerte freizugeben. Ich weiß, daß ein Brief in Umlauf gebracht wurde. Ich habe eine E-Mail von der Maryland Peace Action Group erhalten, und ich weiß, daß Friedensgruppen in den ganzen Vereinigten Staaten einen Appell an die Menschen verbreiten, ihre Kongreßabgeordneten aufzufordern, diesen Brief zu unterzeichnen. Das Schreiben wird von den Abgeordneten Pramila Jayapal, Sarah Jacobs und Jesús García in Umlauf gebracht, um Präsident Biden aufzufordern, die eingefrorenen afghanischen Reserven in Höhe von 9,5 Mrd. Dollar freizugeben. Was können Sie über Ihre Bemühungen im Kongreß und in den Medien sagen, diese Politik zu fördern?
Dr. Mehrabi: Diesen Brief haben wir, glaube ich, im Oktober geschrieben, aber damals war der Kongreß sehr beschäftigt. Wir haben unsere Treffen mit Kongreßabgeordneten und Senatoren fortgesetzt. Durch diese Treffen und Bemühungen ist es uns gelungen, eine Reihe von Unterstützern für diesen Brief zu gewinnen. Bisher haben 23 Personen den Brief unterzeichnet. Ursprünglich hatten Jayapal, Jacobs und García unterzeichnet. Aber jetzt haben sich auch andere Kongreßmitglieder dem Zug angeschlossen und unterschrieben.
Ich hatte heute ein Treffen mit Mitarbeitern des Kongresses und des Senats, bei dem ich einen Vortrag hielt und die Idee dieses Briefes vorstellte und weitere Unterschriften erhielt. Wir hatten gehofft, noch mehr Unterschriften zu bekommen und dann dieses zweiseitige Schreiben Präsident Biden zu überreichen.
Wir machen deutlich, was getan werden muß und warum es getan werden sollte, und wie wichtig es ist, dafür zu sorgen, daß die Menschen in Afghanistan nicht verhungern, und es nicht zu Hungersnöten und allgemeiner Armut kommt. Das liegt im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten.
Es wird argumentiert, die Vereinigten Staaten hätten viel Schweiß und Geldmittel aufgewendet, um sicherzustellen, daß diese Institutionen aufgebaut wurden. Und jetzt sollten wir diese spezielle Institution nicht abbauen. Die Afghanen verdienen es, Zugang zu ihren Währungsreserven zu haben. Sie verdienen ein Leben in Frieden und Wohlstand in einem Land, das 40 Jahre lang unter einem Krieg gelitten hat. Alle diese Argumente sind in dem Brief an Präsident Biden klar formuliert. Er wird Präsident Biden bald vorgelegt werden, wahrscheinlich am Montag oder Dienstag nächster Woche.
Operation Ibn Sina
Billington: Helga Zepp-LaRouche, die Gründerin der internationalen Schiller-Institute, wendet sich, wie Sie wissen, entschieden gegen diese Politik des Völkermords, die von den USA und den verbündeten NATO-Staaten gegen Afghanistan betrieben wird. Sie betont, daß über die Soforthilfe hinaus die Einführung eines modernen Gesundheitssystems notwendig ist, mit allem, was dazu gehört, d.h. sauberes Wasser, Elektrizität, Transportmittel sowie medizinische Einrichtungen. Zepp-LaRouche nennt dieses Projekt der internationalen Zusammenarbeit „Operation Ibn Sina“, nach dem berühmten medizinischen Genie, Dichter, Astronomen und Philosophen des 11. Jahrhunderts, der in der Region des heutigen Afghanistan geboren wurde und in der gesamten islamischen Welt sehr beliebt ist. Was halten Sie von diesem Vorhaben, und was können Sie über Ibn Sina sagen?
Dr. Mehrabi: Ich danke Ihnen besonders für diese Frage. Wir haben es hier mit dem aktuellen Afghanistan zu tun, mit dem Zusammenbruch einer Regierung, die im Entstehen begriffen ist, und Afghanistan steht vor wirtschaftlichen und entwicklungspolitischen Herausforderungen – vor gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen. Jede Bemühung um Entwicklung und Wirtschaftswachstum ist willkommen.
Ich denke, die Bemühungen von Frau LaRouche, die Gesundheitsversorgung sicherzustellen – Afghanistan hat eine sehr hohe Sterblichkeitsrate – ein Schritt sind, der zumindest das Leben vieler Menschen verlängern wird, die aufgrund ihrer Krankheiten und des fehlenden Zugangs zur Gesundheitsversorgung ein kürzeres Leben hätten. Und es geht natürlich auch um Zugang zu sauberem Wasser und Strom. Zurzeit kann Afghanistan nicht viel Strom importieren und kann ihn auch nicht bezahlen, weil die Währung knapp ist.
Ich denke, das sind alles Schritte, die wir alle unterstützen sollten, und wir sollten alle in der einen oder anderen Form sehr dankbar dafür sein.
Im Bereich der Gesundheit erlebt Afghanistan eine dritte COVID-19-Welle, die im April begann. Die Infektionsraten haben ein sehr hohes Niveau erreicht. In Verbindung mit einem Rückgang der ausländischen Hilfe ist der Staat nicht in der Lage, genügend Geld für die Bewältigung der Gesundheitsprobleme aufzubringen. Hinzu kommt, daß die Weltbank, die die Mitarbeiter des Gesundheitssektors bezahlte, die Zahlungen eingestellt hat. All dies zusammen hat zu einer wirklich katastrophalen Situation für die Wirtschaft Afghanistans geführt.
Daher ist ein Schritt wie dieser, der von Frau LaRouche eingeleitet wurde, zu begrüßen. Und ich denke, Ibn Sina ist, wie Sie bereits erwähnten, in diesem Teil der Region und auch in Afghanistan sehr bekannt. Es gibt ein Ibn-Sina-Krankenhaus im Herzen von Kabul, das von vielen Patienten besucht wird. Die Menschen würden die Modernisierung dieser Einrichtung mit Hilfe von Frau LaRouche und anderen sehr schätzen und würdigen.
Groß angelegte Infrastruktur für wirtschaftliche Entwicklung
Billington: Das andere wichtige Thema, für das wir vom Schiller-Institut und von EIR uns einsetzen, ist der Aufbau einer großangelegten Infrastruktur, besonders mit Hilfe der Gürtel- und Straßen-Initiative. Wir haben gerade erfahren, daß Pakistan mit dem Bau einer Eisenbahnverbindung von Quetta nach Kandahar begonnen hat. Und wir wissen, daß im Februar letzten Jahres ein Plan akzeptiert wurde, zwischen Pakistan, Afghanistan und Usbekistan, als Teil von Gürtel und Straße, eine Bahnverbindung vom China-Pakistan-Wirtschaftskorridor (CPEC) von Islamabad über den Khyberpaß nach Kabul und weiter nach Taschkent zu bauen, die allen zentralasiatischen Ländern erstmals Zugang zum Arabischen Meer verschaffen und auch Afghanistan grundlegend verändern würde.
Wie sieht Ihre Vision für die Entwicklung Afghanistans aus, und halten Sie es für möglich, daß diese Projekte fortgesetzt werden können, ohne erst die Bankenkrise zu lösen und die Zusammenarbeit mit China und anderen Nachbarländern zu suchen?
Dr. Mehrabi: Ich glaube, das sollten wir. Zusätzlich zur humanitären Hilfe könnte die chinesische Gürtel- und Straßen-Initiative Afghanistan langfristige wirtschaftliche Lebensfähigkeit verschaffen. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, den man im Auge behalten sollte.
Eine Möglichkeit ist natürlich, daß Afghanistan sich dem Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridor anschließt, der ein zentraler Bestandteil der Gürtel- und Straßen-Initiative ist. Ich glaube, Beijing hat über 60 Milliarden Dollar für die Infrastruktur in Pakistan zugesagt. Ursprünglich war es Afghanistan nicht erlaubt, sich daran zu beteiligen, aber ich glaube, jetzt wurde es eingeladen. Diese Initiative, der Chinesisch-Pakistanische Wirtschaftskorridor, ist eine gute Option für die Entwicklung Afghanistans.
Es ist auch wichtig zu bedenken, daß die Erdgaspipeline Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien (TAPI) im Gespräch ist. Die TAPI könnte Afghanistan eine ganze Menge Geld einbringen – die Transitgebühren werden auf über 400 Mio. Dollar geschätzt. Diese Pipeline ist zweifellos auch ein wichtiges Projekt.
Aber es gibt auch andere Entwicklungsbereiche, die zwar angesprochen, aber noch nicht vollständig erforscht und umgesetzt wurden, wie z.B. Mineralien. Als ich 2008 im Finanzministerium in Afghanistan war, wurde ein Vertrag mit der Metallurgical Corporation of China über die Erschließung der Kupfermine Mes Aynak unterzeichnet, aber wegen der Sicherheitslage konnte dort nicht viel produziert werden. Dann sprachen wir über die Eisenerzmine Hajigak, die erschlossen werden muß.
Wir haben Ölvorkommen, die China ebenfalls zu erschließen versucht. Es gibt also viele weitere Möglichkeiten. Außerdem verfügt Afghanistan neben anderen Mineralien über große Lithiumvorkommen, die, wenn sie abgebaut würden, erhebliche Devisenreserven einbringen könnten.
Sanktionen schaden nur den einfachen Menschen
Belsky: Gibt es noch andere Gedanken, die Sie uns mitteilen möchten?
Dr. Mehrabi: Nun, ich bin der festen Überzeugung, wie ich schon die ganze Zeit gesagt habe, daß die Reserven freigesetzt werden müssen und wir in der Lage sein sollten, dafür zu sorgen, daß die einfachen Afghanen nicht in eine Lage kommen, in der sie nicht genug Nahrungsmittel haben.
Als Wirtschaftswissenschaftler und afghanischer Amerikaner bin ich zutiefst besorgt über das Schicksal der 35 Millionen Menschen in Afghanistan, die ihr ganzes Leben lang nichts anderes als Krieg und Leid erlebt haben. Und wenn nun ein anderes Land diesen Menschen die Luft abdreht, wird das Ergebnis – wie Sie wissen – nur eine neue Flüchtlingskrise sein, eine Flüchtlingskrise, wie wir sie 2014 in Syrien gesehen haben, oder sogar noch schlimmer. Die Afghanen werden zu Fuß fliehen. Sie werden ihre Babys in einer Hand tragen und alles, was sie haben, in der anderen, und sie werden nach Westen gehen, in den Iran, in der Hoffnung, es in die Türkei und dann nach Europa zu schaffen. Ich denke, damit haben die Vereinigten Staaten versagt – und zwar nicht nur in kurzsichtiger Weise, sondern sie haben auch das afghanische Volk endgültig im Stich gelassen.
Ich halte es für sehr wichtig, daß die Vereinigten Staaten, die mit den Taliban über die Evakuierung verhandelt haben, die darüber verhandelt haben, wie sie den IS [Islamischen Staat] angreifen können, sich einerseits voll und ganz solchen Aktivitäten widmen können, sich aber andererseits nicht voll und ganz auf die Freigabe dieser Geldmittel einlassen wollen.
Man sieht diese Politik, die jetzt betrieben wird. Sie schadet nie denen, auf die sie abzielt. Sie wird der derzeitigen Regierung nicht schaden. Das wissen wir aus vielen anderen Fällen. Sie schaden den einfachen Afghanen, die es verdient haben, über ihr Geld zu verfügen. Sie verdienen es, daß ihre Ersparnisse nicht wertlos werden – wertlos, weil die Inflation sie auffrißt, den Wert ihres Geldes, in einem Augenblick. Sie verdienen es, daß sie ihre Familien ernähren können. Wie ich bereits sagte, ich halte dieses Versäumnis, den Zugang zum Geld zu ermöglichen, für kurzsichtig.
Lassen Sie uns versuchen, so zu handeln, daß wir diesen Menschen tatsächlich helfen. Die Vereinigten Staaten haben eine Menge Geld investiert. Versuchen wir, die Spirale von Preissteigerungen, Nahrungsmittelknappheit, Währungsabwertung und Bankschließungen zu vermeiden. Lassen Sie uns versuchen, den völligen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern.
Billington: Vielen Dank, Dr. Mehrabi. Wir wissen das zu schätzen. Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihre Botschaft mit unseren Bemühungen zu verbreiten, zusammen mit anderen, die sich Ihnen anschließen und versuchen, diese Greuel zu verhindern und zumindest die Zerstörungen wiedergutzumachen, die in all diesen Jahren an Ihrem Land angerichtet wurden.
Dr. Mehrabi: Ich danke Ihnen vielmals. Ich danke Ihnen, Gerry, und ich danke Ihnen, Mike, für all Ihre Hilfe und Ihre Bemühungen in diesem Bereich. Ich bin sehr dankbar für Ihr Engagement in diesem Bereich. Ich bin Optimist. Es hat eine Weile gedauert, bis dieser Brief herauskam, aber wir haben es endlich geschafft, mit zwei-, drei- oder manchmal viermaligen Treffen pro Woche für verschiedene Gruppen. Wir haben jetzt einen Stand erreicht, bei dem wir mindestens 23 Mitunterzeichner haben. Hoffentlich wird die Anzahl noch größer werden… Wir werden das versuchen. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten, und wir bleiben in Kontakt. Und nochmals vielen Dank.
Belsky: Und ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen, Dr. Mehrabi.