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Helga Zepp-LaRouche: Afghanistan: eine Hölle auf Erden

Helga Zepp-LaRouche: Afghanistan: eine Hölle auf Erden

Beim Internetseminar „Die humanitäre Krise in Afghanistan: auf dem Weg zu einer langfristigen Lösung“ des Russischen Rats für Internationale Angelegenheiten und des Schiller-Instituts am 10. Februar hielt Helga Zepp-LaRouche das folgende Eingangsreferat.

Afghanistan: eine Hölle auf Erden

Von Helga Zepp-LaRouche

Wer auch immer nach der Machtübernahme der Taliban im August für den Erlaß von Sanktionen gegen Afghanistan und das Einfrieren der afghanischen Guthaben in den USA und Europa verantwortlich ist, ist auch für dies verantwortlich: Laut dem deutschen UNICEF-Chef Christian Schneider befinden sich in Afghanistan akut eine Million Kinder unter fünf Jahren in einem Zustand, in dem sie in Deutschland auf der Intensivstation behandelt würden. D h. sie werden unter den jetzt gegebenen Bedingungen wahrscheinlich sterben. 8,7 Millionen Menschen befinden sich laut der UN in einem fortgeschrittenen Zustand des Verhungerns, 24,4 Millionen Menschen, das sind 55% der Bevölkerung, sind in einer Notsituation, d.h. es fehlt an allen Grundbedürfnissen des Lebens, 98% haben nicht genug zu essen. Immer mehr Familien verkaufen einzelne ihrer Kinder, in der Hoffnung, daß die anderen überleben. Menschen verkaufen ihre Organe.

Auch wenn die Massenmedien in den USA und Europa nach einem kurzen Hype im August und Anfang September so gut wie nichts mehr über diese größte humanitäre Krise auf der Erde berichten: die Verantwortlichen in den NATO-Staaten, die im August fluchtartig das Land verließen, wußten natürlich, daß das Budget Afghanistans zu 80% aus Hilfsgeldern der Geberländer bestand und daß Afghanistans Wirtschaft durch die Kombination der Streichung dieser Gelder, des Einfrierens des afghanischen Kapitals und der Sanktionen über Nacht stranguliert wurde.

Nach sechs Monaten der sich entfaltenden Tragödie und zahlreichen (bis auf kleine kürzliche Zugeständnisse) vergeblichen Appellen stellt sich die Frage nach der Intention dieser Politik. Das Argument, die Taliban müßten zunächst die Rechte der Frauen anerkennen etc., wird absurd, wenn diese Frauen und ihre Kinder tot sind. Ist die Intention also, die Fähigkeit der Taliban, den Staat irgendwie aufrecht zu erhalten, soweit so sabotieren, daß die Opposition – also auch ISIS, Al-Kaida, Drogenhändler, Warlords etc. – Oberwasser gewinnt?

Die Folge wäre ein neuer blutiger Bürgerkrieg, eine Hölle, in der die Zivilbevölkerung, zwischen Verhungern, Erfrieren, COVID, Epidemien wie Polio, Masern, Denguefieber, Diarrhoe etc. aufgerieben wird und Millionen Flüchtlinge sich in die Nachbarländer und nach Europa zu retten versuchen. Das wäre eine Fortsetzung des „Great Game“ des Britischen Empires, von Bernhard Lewis und Zbigniew Brzezinski, dessen Ziel die geopolitische Destabilisierung Rußlands, Chinas und der wirtschaftlichen Integration Eurasiens durch die Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) mit allen Mitteln ist – durch Terrorismus, Opiumkrieg, ethnische Konflikte.

Wenn diese Politik „Erfolg“ haben sollte, wäre es nur ein weiteres Element in dem großen letzten Akt der Tragödie der Menschheit, die derzeit auf der Bühne der Weltgeschichte zwischen den Kontrahenten des Westens und Rußland und China stattfindet und deren Stadium das Bulletin of Atomic Scientists jüngst erneut als „100 Sekunden vor Zwölf“ auf der Atomkriegsuhr angegeben hat.

Operation Ibn Sina

Avicenna – Ibn Sina
Ibn Sina sculpture in a park in Tehran.
cc/Blondinrikard Fröberg

Es gibt ein Gegenkonzept zur Rettung Afghanistans, dem ich den Namen „Operation Ibn Sina“ gegeben habe. Ibn Sina, der vor rund tausend Jahren lebte, war einer der größten Ärzte in der Universalgeschichte, dessen Kanon der Medizin teilweise bis zum 18. Jahrhundert verwendet wurde. In Zeiten der Corona-Pandemie kann der im heutigen Usbekistan geborene Ibn Sina – dessen Vater aus Balch in Afghanistan stammte -, der u.a. die enorme Bedeutung der Quarantäne für die Bekämpfung von Seuchen erkannte und der ein herausragender Renaissance-Mensch war, eine Symbolfigur für die Rettung Afghanistans werden.

Die Operation Ibn Sina kann in zweifacher Hinsicht eine Wende zum Besseren einleiten.

Sie kann erstens zum Synonym für die internationale Zusammenarbeit beim Aufbau eines modernen Gesundheitssystems und der Versorgung der afghanischen Bevölkerung mit Lebensmitteln werden. Wenn alle Nachbarstaaten, aber auch die USA und die europäischen Nationen – die als Teil der NATO 20 Jahre in Afghanistan gekämpft und daher eine zum Himmel schreiende moralische Verpflichtung haben, den Menschen aus dieser unverdienten Notlage zu helfen -, bei einem Crash-Hilfsprogram zusammenarbeiten, kann das Schlimmste noch abgewendet werden.

Neben der humanitären Seite hätte Operation Ibn Sina aber noch eine zweite, militärisch-strategische Dimension. Wenn es gelänge, zwischen Rußland, China, den USA und Indien – und damit den vier Nationen, die bezüglich ihrer militärischen und wirtschaftlichen Bedeutung bzw. ihrer Bevölkerungsstärke am bedeutendsten sind – eine Kooperation zustande zu bringen, könnte dies zugleich eine vertrauensbildende Maßnahme für die Lösung der großen strategischen Konflikte sein. Afghanistan gehört im Gegensatz zu der strategischen Bedeutung der Ukraine oder Taiwans nicht zu den Kerninteressen von Rußland und China, es liegt viele tausend Meilen von den USA entfernt, Indien hingegen hat ein Kerninteresse an der Stabilität seiner geographischen Umgebung. Die Zusammenarbeit dieser vier Mächte zusammen mit der Mobilisierung existierender anderer Formate, wie die „Troika-plus“, die SCO und die OIC, kann bei der Rettung Afghanistans ein Schritt zu dem Neuen Paradigma in den internationalen Beziehungen sein, ohne das ein dauerhaftes Überleben der Menschheit nicht möglich sein wird.

Es gibt keinen Ort auf dieser Erde – und das schließt das strategische Explosionspotential der Destabilisierungsoperationen um die Ukraine und Taiwan mit ein -, an dem die moralische Überlebensfähigkeit der menschlichen Gattung so sehr getestet wird, wie in Afghanistan. Es ist nicht unsere Sicherheit, die am Hindukusch verteidigt wird, wie der damalige Verteidigungsminister Peter Struck behauptet hatte, sondern unsere Menschlichkeit.

Militärstrategen sind eingeladen, eine vielleicht ungewohnte Domäne des strategischen Denkens zu berücksichtigen: den moralischen Zustand der Bevölkerung – der eigenen und der des Kontrahenten. Als die Französische Revolution durch den Terror der Jakobiner scheiterte, befand Friedrich Schiller, daß ein großer Augenblick ein kleines Geschlecht gefunden habe, daß zwar die objektive Gelegenheit existierte, aber die subjektive moralische Fähigkeit gefehlt hatte. Er verfaßte daraufhin die Ästhetischen Briefe, in der Überzeugung, daß von nun an jede Verbesserung im Politischen nur durch die Veredlung des Charakters des einzelnen möglich sein würde. Er befand, daß deshalb die „Ausbildung des Empfindungsvermögens“ das dringendste Bedürfnis der Zeit sei, weil sie die „Verbesserung der Einsicht erweckt“.

Die Überwindung der verwerflichen Gleichgültigkeit in Teilen der Bevölkerung, die sie gleichermaßen unempfindlich macht für das Leiden anderer Völker wie für die Auswirkungen der geopolitisch motivierten Dämonisierung des vermeintlichen Gegners, ist von dieser Perspektive ein strategischer Faktor der ersten Ordnung. „Operation Ibn Sina“ sollte deshalb die Flagge werden, unter der sich alle Kräfte vereinen, die aus Agape das afghanische Volk retten wollen, die ein Neues Paradigma in den strategischen Beziehungen als endgültige Überwindung der Kriegsgefahr verwirklichen wollen, und die die Humanität unserer Gattung verteidigen wollen.

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