Die ukrainische Ökonomin Dr. Natalja Witrenko, frühere Präsidentschaftskandidatin und Vorsitzende der Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine, hielt diese hochaktuelle Rede bei der internationalen Internetkonferenz des Schiller-Instituts am 19.2.22 .
Liebe Helga, liebe Konferenzteilnehmer,
es ist sehr wichtig, daß unsere Konferenz in einer Zeit der verschärften Konfrontation zwischen zwei Blöcken von führenden Ländern in der Welt stattfindet. Das sind zum einen die NATO-Staaten, angeführt von den USA, und zum anderen der andere Block, der vor unseren Augen Gestalt annimmt, nämlich Rußland und China, die in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 4. Februar dieses Jahres ihre Absicht verkündet haben, in allen Fragen zusammenzuarbeiten. Dies ist äußerst wichtig, denn die Menschheit steht am Rande des Dritten Weltkriegs. Und auf Messers Schneide dieser Konfrontation steht mein Land, die Ukraine.
Davor haben wir seit langem gewarnt. Ich möchte Sie an meine Rede vor dem Europäischen Parlament am 26. Februar 2014 erinnern. Das war während einer Reise von Vertretern unserer Partei, die meiner Meinung nach sehr wichtig für die internationale Gemeinschaft war, als wir Deutschland, Frankreich und Italien besuchten. Unsere Freunde vom Schiller-Institut haben uns bei der Organisation dieser Reise geholfen. Damals sagte ich auf einer Pressekonferenz, daß der Staatsstreich in der Ukraine im Jahr 2014 Nazis und Rußlandhasser an die Macht gebracht hat und daß dies nicht nur für die Ukraine und nicht nur für den eurasischen Kontinent, sondern für die ganze Welt äußerst schwerwiegende Probleme mit sich bringen würde.
Und tatsächlich begannen die USA ab 2014, die Ukraine massiv zu unterstützen und eine Konfrontation mit Rußland vorzubereiten. Wie anders läßt sich die Tatsache interpretieren, daß seither 2,7 Milliarden Dollar an schweren Waffen bereitgestellt wurden? Wie anders ist es zu verstehen, daß die ukrainische Regierung nicht auf eine friedliche Lösung der Krise und die Suche nach diplomatischen Wegen zur Beilegung dieses blutigen Konflikts im Südosten der Ukraine, im Donbaß, ausgerichtet ist, sondern daß sie ständig zum Krieg mit Rußland angestiftet wird?
Wir erleben in den letzten zwei oder drei Monaten, im Grunde seit letztem Herbst, eine besondere Art militaristischer Psychose. Soweit ich weiß, haben die USA allen ihren Satelliten grünes Licht gegeben, so daß nicht nur sie selbst damit begannen, eine regelrechte Lawine von Waffen in die Ukraine zu schicken, sondern auch die baltischen Länder, Polen, Kanada und das Vereinigte Königreich – sie alle, beunruhigt über die Geschehnisse in der Ukraine, begannen plötzlich, angeblich zum Zweck der Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität [der Ukraine] gegen Rußland, immer mehr und mehr Waffen in die Ukraine zu liefern.
Ich betone, daß dies keine Geschenke an unser Land sind! Es handelt sich um Kredite. Das letzte Darlehen kam von den USA, mit Kreditgarantien von 1 Milliarde Dollar. Großbritannien hat zweieinhalb Milliarden Dollar bereitgestellt, genauer gesagt 2,3 Milliarden. Mehr als eine halbe Milliarde von Kanada. 1,2 Milliarden Euro aus Frankreich. Woher sollen diese Mittel zurückgezahlt werden? Wie können sie zurückgezahlt werden? All dies ist ein Joch, es sind Fesseln für unser Volk.
Aber das ist nicht einmal die Hauptsache. Das Wichtigste ist, daß nicht nur die ukrainische Wirtschaft zerstört wird, sondern unser Volk dient einfach als Kanonenfutter. Die westlichen Massenmedien hämmern unablässig auf uns ein: Wenn der Krieg mit Rußland beginnt, wird es auf ukrainischer Seite 50.000 oder 85.000 Tote geben.
Was bedeutet das? Das ist ein schwerer Druck auf unser Land, auf unser Volk! Das ist ein extrem harter psychologischer Angriff auf die Gemütsverfassung unserer Bevölkerung, der absolut unerträglich ist. Es ist einfach unerträglich. Was in unserem Land mit der Bevölkerung geschieht, ist ein sehr schwieriger Prozeß: Die Menschen packen Notfalltaschen, versuchen, Luftschutzbunker zu finden, organisieren örtliche Verteidigungsmilizen.
Und das ist ohne Frage auch ein schwerer Schlag für die Wirtschaft. Als Präsident Selenskyj dies alles vor einem Monat sah, war selbst er sprachlos, denn die Ukraine hat allein seit Beginn dieses Jahres 14 Milliarden Dollar verloren. Zwölfeinhalb Milliarden durch Kapitalflucht und eineinhalb Milliarden, die von der ukrainischen Zentralbank zur Stützung der Währung ausgegeben wurden. Und ich möchte betonen, daß die Gold- und Währungsreserven der Ukraine weniger als 30 Milliarden betragen. Und jetzt gab es bereits 14 Milliarden Verluste.
Unsere Eurobonds, die ukrainischen Staatsschulden, sind zusammengebrochen. Die nationale Währung ist zusammengebrochen, wie ich bereits erwähnt habe, und das internationale Kapital ist blockiert – die internationalen Kapitalmärkte sind für die Ukraine geschlossen. Investitionen fließen ab. Und das alles ist buchstäblich in den letzten Wochen geschehen. Die Nationalbank der Ukraine hat ihre BIP-Prognose bereits von 3,8 Prozent auf 3,4 Prozent nach unten korrigiert.
Was wird als nächstes passieren? In unserem Land fehlen den Menschen die Mittel selbst für das Nötigste. Heute wurde bekanntgegeben, daß der Brotpreis bald um 25 oder 30 Prozent angehoben werden soll. Und das, obwohl wir aufgrund der brutalen Renten- und Lohnpolitik bereits die verarmteste Bevölkerung in Europa haben, mit der kürzesten Lebenserwartung.
Das ist das Ergebnis der Bemühungen, unsere Länder gegeneinander auszuspielen. Und das, obwohl Rußland wiederholt erklärt hat, daß es nicht die Absicht hat, in die Ukraine einzumarschieren. Sie führen ihre militärischen Übungen auf ihrem eigenen Territorium durch. Aber die westlichen Medien, die USA und das Vereinigte Königreich hören nicht auf sie. Selbst wenn Rußland die Zahl seiner Truppen jetzt in Grenznähe reduziert und sie nach Abschluß der Übungen in ihre Stützpunkte zurückzieht, geht es weiter. Es heißt: Nein, wir sehen keinen Deeskalationsprozeß; nein, wir trauen nicht, was Rußland sagt.
Was ist das Ziel? Daß es zum Krieg kommt, auf jeden Fall.
Wer zündet das Feuer des Krieges an, innerhalb der Ukraine und von außen?
Innerhalb der Ukraine sind es in erster Linie die Nazis. All diese Organisationen sind aus dem Boden gestampft worden: Parteien, Bewegungen, Organisationen, die nach Blut dürsten. Sie haben eine Ideologie namens ukrainischer integraler Nationalismus. Diese Ideologie wurde von [Dmitro] Donzow und [Mykola] Sziborskyj [zu Beginn des 20. Jahrhunderts] geschaffen und dann von Bandera und Schuchewitsch umgesetzt. Es ist eine Ideologie der Feindschaft zwischen unseren Völkern. Es ist eine Ideologie des Krieges, des menschenfeindlichen Krieges. Diese Ideologie einer nazistischen Ukraine hat einen Teil der Bevölkerung unseres Landes infiziert. Das Schlimmste ist, daß diese Ideologie zur offiziellen Ideologie der ukrainischen Regierung geworden ist, genau wie wir gewarnt haben.
Infolgedessen sind Menschen mit russischer Kultur, Angehörige ethnischer Minderheiten, zu Menschen zweiter Klasse geworden. Sehen Sie mich an: Ich bin ethnisch ukrainisch, aber meine Muttersprache ist Russisch. Ich kann mir nicht vorstellen, außerhalb der russischen Zivilisation zu leben. Aber alle russischen Fernsehsender und alle Sendungen in russischer Sprache wurden in der Ukraine verboten. In den Gerichte, Regierungsbehörden, Schulen und Universitäten wird nur Ukrainisch gesprochen. Und ständig wird die Psychose geschürt, daß die „Moskowiter“ vernichtet werden müssen. Das wird offen gesagt, im Fernsehen.
Das ist innerhalb der Ukraine. Und außerhalb der Ukraine sehen wir, daß die USA, angeführt von Biden, der angeblich um die Souveränität der Ukraine besorgt ist, nur auf die Version der Nazi-Ideologen hören. Warum versteht Biden, der von Souveränität spricht, nicht, daß die Souveränität der Ukraine in der Erklärung über die staatliche Souveränität verankert ist und daß unsere Souveränität in zwei Referenden im Jahr 1991 bestätigt wurde – eines im März und eines im Dezember.
Und da dies der Fall ist, hätte die westliche „Demokratie“ die Demokratie in der Ukraine unterstützen müssen. Aber das bedeutet die Volksmacht und der Wille des Volkes. Lesen Sie die Erklärung der staatlichen Souveränität. Sehen Sie sich an, wofür unsere Bevölkerung gestimmt hat. Denken Sie daran, daß es diese Art von Ukraine war, die von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wurde. Das war die Art von Souveränität, die als Souveränität der Ukraine anerkannt wurde. Sie beinhaltete den blockfreien Status (Neutralität) für die Ukraine. Dazu gehörte auch ein Unionsstaat mit Rußland und Belarus. Gäbe es einen Unionsstaat, hätte es kein Problem mit der Krim gegeben. Die Krim wäre das Lieblingskind sowohl der Ukraine als auch Rußlands geblieben, anstatt ein Streitobjekt zu sein.
Was getan werden muß
Deshalb ist es heute wichtig zu erkennen, was getan werden muß, um die Situation radikal zu ändern und einen Krieg zu verhindern. Ich werde dies in zwei Teile gliedern: was die Ukraine tun muß, und was die internationale Gemeinschaft tun muß.
Die oberste Priorität für die Ukraine ist die Entnazifizierung. Es gilt, die ukrainische Regierung mit vereinten Kräften der gesamten Weltgemeinschaft dabei zu unterstützen, alle Parteien, Bewegungen und Organisationen mit nazistischer Ausrichtung zu verbieten. Dafür gibt es genügend internationale Normen und Grundsätze. Ich will nur die Konventionen nennen, die es der internationalen Gemeinschaft ermöglichen, der Ukraine in dieser Hinsicht zu helfen. Das sind
– die Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes,
– die Internationale Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung und
– der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Dort steht alles drin: ein Verbot von Kriegspropaganda, ein Verbot der Tätigkeit von Organisationen, die Rassendiskriminierung betreiben – sei es auf Grundlage der Rasse, der ethnischen Zugehörigkeit oder anderer Kriterien. Das ist es, was in der Ukraine getan werden muß. Es ist von herausragender Bedeutung für die Ukraine. Und man muß sich darüber im Klaren sein, daß die Ukraine nicht überleben wird, wenn nicht folgendes geschieht: Entnazifizierung, die Wiederherstellung unseres blockfreien Status und die Verwirklichung dessen, was der ausdrückliche Wille unseres Volkes war – ein Unionsstaat mit Rußland und Belarus.
Was die internationale Seite betrifft, was muß getan werden? Natürlich hoffen und beten wir leidenschaftlich, daß es Rußland und China gemeinsam gelingen wird, die USA und Deutschland davon zu überzeugen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen und eine neue Weltarchitektur auszuarbeiten – um jene Prinzipien zu finden, sie zu bestätigen und sie zur Grundlage einiger Dokumente zu machen, die eine friedliche Koexistenz verschiedener Länder unter Achtung ihrer nationalen Interessen und Eigenheiten ermöglichen.
Und natürlich müssen wir das Wirtschaftsmodell, das Weltwirtschaftsmodell, ändern. Wir erinnern uns, wie Lyndon LaRouche uns erklärt hat, daß es ohne eine radikale Änderung des Wirtschaftsmodells keine nachhaltige Entwicklung geben wird, und daß es unmöglich sein wird, die nationalen Interessen der verschiedenen Länder zu verteidigen. Das ist es, wonach die gesamte fortschrittliche Menschheit streben muß. Und das ist die Position unserer Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine. Vielen Dank.