Von Helga Zepp-LaRouche
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es keine Situation gegeben, in der wir es mit so vielen Herausforderungen zugleich zu tun haben, insbesondere einer Pandemie, deren erste Phase Deutschland zwar noch vergleichsweise gut überstanden hat, die aber vor allem für die Entwicklungsländer mit ihrem riesigen sogenannten informellen Wirtschaftssektor katastrophale Folgen hat. Der Lockdown der Wirtschaft hat eine beispiellose Insolvenzwelle und einen damit verbundenen Anstieg der Arbeitslosigkeit ausgelöst, den nur wenige Branchen relativ unversehrt überstehen werden und einige sogar in ihrer Existenz bedroht. COVID-19 hat auch den Schleier von längst vorhandenen und bisher nur verdeckten Schwachpunkten unserer Wirtschaft weggerissen, wie z.B. der Anfälligkeit, die in Krisensituationen entsteht, wenn wichtige Produktionszweige ins Ausland verlagert wurden und Lieferketten für essentielle Produkten reißen.
Aber auch die strategische Lage verschlechtert sich zunehmend: Die geopolitische Konfrontation zwischen USA, Großbritannien und der EU auf der einen Seite und Rußland und China auf der anderen hat zu einem weitgehenden Vertrauensverlust in den internationalen Beziehungen und einer noch gefährlicheren Situation als selbst auf dem Höhepunkt der Kubakrise geführt. Damals gab es verläßliche Kommunikationskanäle zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow; davon kann heute nicht mehr in der gleichen Weise zwischen den Präsidenten der wichtigsten Nuklearmächte die Rede sein. Entgegen den nach der deutschen Wiedervereinigung abgegebenen Versprechen wird die NATO immer weiter bis an die Grenzen Rußlands vorgeschoben, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs befinden sich wieder deutsche Truppen an der russischen Grenze, wie z.B. im Baltikum, und NATO-Generalsekretär Stoltenberg verfolgt konkrete Pläne für die Globalisierung der Nato und die Errichtung eines neuen NATO-Hauptquartiers im indopazifischen Raum. Die USA haben weltweit 1000 Militärbasen errichtet, davon 400 im pazifischen Raum, die von Rußland und China als Teil einer Einkreisungsstrategie betrachtet werden.
Die Zahl gefährlicher Manöver der verschiedenen Luftwaffen in Grenznähe hat bedrohlich zugenommen, ebenso wie die Abfangmanöver der jeweils gegnerischen Seite, so daß der Weltfrieden manchmal nur noch von den Flugkünsten der Kampfpiloten abzuhängen scheint. Sanktionen sind längst Teil eines regelrechten Wirtschaftskriegs geworden, der zu einer Politik des Regimewechsels gehört, aber in Coronazeiten erst einmal die schwächsten Teile der Bevölkerung trifft. Das unfaßbare Leid der Flüchtlinge im Lager Moria auf Lesbos und die barbarische Unfähigkeit der EU, eine menschliche Lösung für die Flüchtlingskrise zu finden, sollten eine dringende Warnung sein, daß der Versuch, die gegenwärtige Politik in den kommenden Jahrzehnten fortzusetzen, noch viel furchtbarere Flüchtlingskatastrophen heraufbeschwören dürfte.
Der tiefere Grund für die geopolitische Konfrontation gegenüber China und Rußland, die beide in einer engen strategischen Partnerschaft verbunden sind, liegt in dem beispiellosen wirtschaftlichen Aufstieg, den China in den letzten 40 Jahren mit seiner Reform- und Öffnungspolitik vollzogen hat. Bis 1978 war China eines der ärmsten Länder dieser Welt und befand sich während der Kulturrevolution auf dem Entwicklungsniveau vieler südafrikanischer Staaten. Dank der von Deng Xiaoping in Gang gesetzten Wirtschaftsreformen erreichte China von 1978 bis 2017 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von 9,5 Prozent! Kein anderes Land der Erde hat ein vergleichbares Wirtschaftswunder geschaffen, und das schließt das deutsche Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg mit ein. Während China vor 1978 noch fast keinen Anteil an der globalen Wirtschaft hatte, überholte es 2009 Japan beim BIP, 2010 übertrafen die chinesischen Exporte die Deutschlands, und 2013 überflügelte China die USA beim Handelsvolumen.
Wer jemals unmittelbar erlebt hat, was Armut in den Entwicklungsländern für die betroffenen Menschen bedeutet, wird kaum bestreiten, daß Armut die vielleicht schlimmste denkbare Menschenrechtsverletzung ist. Sie beraubt die Menschen nicht nur der grundlegendsten Lebensbedürfnisse, sie entzieht ihnen die Basis für die Entfaltung ihres kreativen Potentials. China hat 850 Millionen seiner eigenen Bevölkerung aus der Armut befreit und zu 70 Prozent zur globalen Armutsbekämpfung beigetragen. Ohne die Leistung Chinas in dieser Hinsicht wäre die Armut weltweit in den letzten 20 Jahren angestiegen. Die Vorstellung, eine Nation von 1,4 Mrd. Menschen, deren Regierung seit 40 Jahren auf Innovation als Motor der Wirtschaft setzt, eindämmen zu wollen, ist völlig illusionär. Wir sollten statt dessen die zivilisatorische Leistung Chinas anerkennen und die vielfältigen Angebote, mit der Neuen Seidenstraße beim Aufbau von Südwestasien und Afrika zu kooperieren, zum gegenseitigen Vorteil nutzen.
Nicht Spekulation, sondern Produktion!
Als Präsident Nixon am 15. August 1971 das Bretton-Woods-System beseitigte, indem er die festen durch flexible Wechselkurse ersetzte und die Goldbindung des Dollars aufhob, prognostizierte der amerikanische Ökonom und Staatsmann Lyndon LaRouche weitsichtig, daß diese monetaristische Politik langfristig zur Gefahr eines neuen Faschismus, einer neuen Depression und der Gefahr eines neuen Weltkrieges führen würde. In den Jahrzehnten seitdem erfolgte die schrittweise immer weitergehende Liberalisierung und Deregulierung des transatlantischen Wirtschafts- und Finanzsystems, das immer mehr die Spekulation anstatt die Realwirtschaft förderte. Infolgedessen öffnete sich die Schere zwischen reich und arm immer mehr. Heute sind wir an dem Punkt angelangt, vor dem LaRouche 1971 gewarnt hatte.
LaRouche initiierte ebenfalls bereits 1973 eine biologisch-ökologische Arbeitsgruppe, deren Aufgabe es war, die negativen Auswirkungen der Austeritätspolitik von IWF und Weltbank auf die Entwicklungsländer zu untersuchen, denn die ihnen auferlegten Konditionalitäten machte es diesen Staaten unmöglich, in Infrastruktur, Gesundheitsweisen, Erziehungswesen und damit die Bereiche zu investieren, die eine wirkliche Industrialisierung und damit wirkliche Entwicklung ermöglicht hätten. Diese Studien ergaben, daß der dadurch sinkende Lebensstandard der Bevölkerung in ganzen Kontinenten über mehrere Generationen hinweg die Gefahr des Wiederaufflammens alter Krankheiten und des Entstehens neuer Pandemien verursachen würde. Genau dies haben wir mit AIDS, SARS, MERS, Ebola und dem neuen Coronavirus erlebt. Und es ist auch deutlich geworden, das COVID-19 nicht zu dieser gefährlichen Pandemie geworden wäre, wenn jedes Land auf diesem Planeten ein ebenso gutes Gesundheitssystem hätte, wie China dies in Wuhan demonstrieren konnte.
Anstatt sich über die Kooperation Chinas mit inzwischen über 150 Staaten der Welt – die meisten davon Entwicklungsländer – im Rahmen der Neuen Seidenstraße zu beschweren, hätte der Westen selber in die Infrastruktur in der sogenannten Dritten Welt investieren können, aber offensichtlich lag dies nicht im Interesse der neoliberalen und malthusianischen Finanzelite. Wir werden aber weder die COVID-19-Pandemie noch künftige drohende Pandemien und schon gar nicht eine Wiederholung der Tragödie von Moria verhindern können, wenn wir nicht umgehend ernsthaft mit der Überwindung von Armut und Unterentwicklung in den Entwicklungsländern beginnen – angefangen mit dem Aufbau eines modernen Gesundheitssystem in jedem Land auf der Erde. Der neue „Migrationspakt“ der EU behebt die Fluchtursachen in keiner Weise und hebelt lediglich die Genfer Flüchtlingskonvention aus – soviel zu Menschenrechten und „europäischen Werten“ in der EU. Statt dessen brauchen wir den Aufbau eines modernen Gesundheitssystems in jedem Land auf der Erde. Und dies ist wiederum ohne die Schaffung der notwendigen Kapazitäten an Wasser, Elektrizität und allgemeiner Infrastruktur als Voraussetzung für die Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft nicht möglich.
Anstatt uns an die geopolitische Konfrontation gegenüber Rußland und China anzuhängen, wie dies Ursula von der Leyen und die EU derzeit in geradezu selbstmörderischer Weise tun, müssen wir uns in Deutschland auf unsere ureigensten Interessen als soziale Industrienation und als ein Land mit einer der reichsten Traditionen der klassischen Kultur besinnen.
Ursula von der Leyens Politik im Interesse der Banken und Kartelle – also der Londoner City und der Wall Street – steht in der Tradition von Adam Smith und der britischen Freihandelstheorie und Geopolitik. Aber das, was Deutschland von einem rückständigen Feudalstaat in eine moderne Industrienation verwandelt hat, war die Theorie der Nationalökonomie von Friedrich List und Henry C. Carey, eine Theorie, die davon ausgeht, daß die Kreativität des Individuums und seine Fähigkeit, immer neue universelle Prinzipien zu entdecken und diese als wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt im Produktionsprozeß anzuwenden, die einzige Quelle des gesellschaftlichen Reichtums darstellt. Es waren diese Theorien – und nicht die des britischen Freihandels –, mit Hilfe derer Otto von Bismarck die Basis für die industrielle Revolution gelegt und so unser Land in einen Sozialstaat und führende Industrienation verwandelt hat.
Das Geheimnis des chinesischen Wirtschaftswunders liegt nicht zuletzt darin, daß Friedrich List dort der populärste Ökonom ist und daß China konsequent seine Theorie angewandt hat, nämlich daß es die Rolle des Staates ist, die Rahmenbedingungen für das Gemeinwohl zu schaffen und zu schützen. Wenn wir den völligen Ausverkauf des deutschen Mittelstandes, dem weltweit berühmten Motor für Innovation und Wohlstand in Deutschland, an die Spekulanten des „Green Wirecard Deal“ verhindern wollen, dann ist es jetzt höchste Zeit, sich von dieser EU zu verabschieden, deren Ziel es seit dem Maastrichter Vertrag ohnehin nur gewesen ist, Deutschland der Diktatur der Finanzoligarchie zu unterwerfen und zu verhindern, daß ein souveränes, wiedervereintes Deutschland seine Interessen in der Zusammenarbeit mit Rußland und ganz Eurasien ausbaut.
Eine friedliche Zukunft kann für Deutschland und die anderen europäischen Staaten nur in der Zusammenarbeit mit Rußland, China und hoffentlich in der Zukunft wieder mit den USA liegen, wenn dort die Kräfte besiegt sind, die seit 2016 einen Putsch gegen die amerikanische Verfassung und das Präsidialsystem inszenieren.
Der Schlüssel für die Lösung so gut wie aller unserer Herausforderungen liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung. Das nächste Mal, wenn Sie am Ufer des Rheins oder einem anderen unserer wunderschönen, infrastrukturell erschlossenen Flüsse sitzen und den regen Verkehr von Containerschiffen beobachten, sollten Sie vielleicht einmal über folgendes nachdenken: Wenn wir mit unserem wirtschaftlichen Potential als Exportnation mithelfen würden, in jedem Land der Erde eine ähnliche Infrastruktur und damit die Basis für wirtschaftliche Entwicklung aufzubauen, glauben Sie, daß dann noch ein einziger Flüchtling sein Leben riskieren wollte, um nach Europa zu kommen?
Wir brauchen ein völlig neues Paradigma in unseren internationalen Beziehungen – eine Außenpolitik, die nicht auf geopolitische Konfrontation, sondern auf Kooperation setzt. Wir müssen eine internationale Partnerschaft von souveränen Republiken schaffen, die sich gemeinsam auf die Lösungen für die großen Herausforderungen der Menschheit konzentriert.