Von Helga Zepp-LaRouche
Auch wenn die soeben veröffentlichte neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA (NSS) von einigen führenden Kreisen in Europa mit einer Mischung aus Zähneknirschen, Wutanfällen und Verzweiflung aufgenommen wurde, sollte man sie unter den gegebenen Umständen lieber als Segen im Unglück betrachten. Denn durch den darin zum Ausdruck kommenden Bruch mit der Sicherheitsdoktrin der Biden-Administration bezüglich einer amerikanischen Führungsrolle in einer unipolaren Weltordnung, zugunsten einer auf Ausgleich bedachten Politik gegenüber Rußland und einer Berücksichtigung der globalen Machtverschiebung gegenüber China, bietet dieses neue Dokument die Chance für eine rationale Neubewertung der eigenen Sicherheitsinteressen und die Neugestaltung der internationalen Sicherheitsarchitektur.
Das Dokument verbietet ausdrücklich die weitere Expansion der NATO – damit ist ein Beitritt der Ukraine zur NATO faktisch vom Tisch, da die sogenannte „Koalition der Willigen“ eine solche Mitgliedschaft gegen den Willen der USA nicht durchsetzen kann. Damit ist im Prinzip auch das Konzept einer „Globalen NATO“ beendet, ebenso wie die diesbezügliche „Interoperabilität“ der EU mit dieser Globalen NATO natürlich entfällt.
Anstatt sich nur darüber zu echauffieren, daß man keinen „Rat von außen“ benötige, so Außenminister Wadephul, sollten die Europäer lieber den zugegebenermaßen unsanften Weckruf des NSS-Papiers ernst nehmen, daß der europäische Kontinent in 20 Jahren nicht mehr wiederzuerkennen sein werde, wenn sich die gegenwärtigen Trends des wirtschaftlichen Niedergangs fortsetzen. Es warnt sogar vor einer „zivilisatorischen Auslöschung“.
Der größte Fehler, den wir in Europa jetzt machen könnten, wäre eine arrogante Zurückweisung dieser Warnung, indem wir sie nur als weiteren Beweis der Unberechenbarkeit von Präsident Trump abqualifizieren. Denn die „zivilisatorische Auslöschung“ Europas droht nicht nur bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik – massive Austerität in allen sozialen Bereichen zugunsten einer gewissenlosen Rüstungsindustrie -, diese Auslöschung droht sogar kurzfristiger bei dem absolut ebenso verantwortungslosen wie aussichtslosen Versuch, Rußland eine „strategische Niederlage“ beizufügen.
Die neue US-NSS bietet die dringend benötigte Gelegenheit, aus der NATO auszutreten, denn diese verfolgt eine Strategie, die mit den fundamentalen Sicherheitsinteressen Deutschlands schon seit geraumer Zeit nicht mehr übereinstimmt. Die NATO hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges, als sie sich eigentlich genauso wie der Warschauer Pakt 1991 zugunsten einer damals absolut möglichen Friedensordnung für das 21. Jahrhundert hätte auflösen müssen, von einem vormals defensiven Verteidigungsbündnis in eine offensive Allianz verwandelt.
Das Faß zum Überlaufen brachte nun eine Ankündigung des ranghöchsten NATO-Militärs, dem Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses Admiral Giuseppe Cavo Dragone, als er in einem Interview eine „aggressivere Reaktion der NATO auf den Krieg in der Ukraine“ forderte. Denkbar sei auch ein „Präventivschlag“ der NATO gegen Rußland, der natürlich als „Verteidigungsmaßnahme“ zu verstehen sei. George Orwell läßt grüßen: „Angriff ist Verteidigung, Krieg ist Frieden!“
Präsident Putin antwortete mit unmißverständlicher Deutlichkeit: Rußland habe keinerlei Absicht, einen Krieg mit Europa zu beginnen; das habe er bereits hunderte Male betont. Sollte Europa allerdings selbst einen solchen Krieg auslösen, sei Rußland „sofort bereit“, und ein solcher Konflikt würde sehr schnell zugunsten Rußlands beendet, anders als bei dem „chirurgischen“ Vorgehen in der Ukraine. Noch direkter war der russische Politikwissenschaftler Sergej Karaganow in einem Interview mit Eva Peli am 30. Oktober in Moskau, in dem er konstatierte, wenn es in Europa zu einem großen Krieg kommt, werde Europa aufhören zu existieren.
Während zwischen der amerikanischen und der russischen Regierung ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, den Krieg in der Ukraine auf dem Verhandlungsweg zu beenden, setzt die europäische „Koalition der Willigen“, bestehend aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, den baltischen Staaten und der EU-Kommission, weiterhin darauf, Rußland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen. Es muß jedem denkenden Menschen klar sein, daß dies gegenüber der inzwischen stärksten Nuklearmacht der Welt unmöglich ist, wenn man nicht zugleich das Ende der Menschheit in Kauf nehmen will.
Der ungarische Außenminister Szijjarto beschuldigt diese europäischen Kräfte nach dem jüngsten Treffen der NATO-Außenminister in Brüssel, sie versuchten, die Friedensbemühungen zu verhindern und Europa in einen Krieg mit Rußland hineinzuziehen. Der ungarische Ministerpräsident Orban warnte am Samstag in Kecskemet sogar, europäische Spitzenpolitiker hätten bereits beschlossen, gegen Rußland in den Krieg zu ziehen. Eine große ungarische Delegation werde in den kommenden Tagen Moskau besuchen.
Ungeachtet der Tatsache, daß man in Deutschland bei jeder Aussage über den Ukraine-Krieg das Mantra wiederholen muß, es handle sich um einen „unprovozierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins“, wenn man nicht als dessen Marionette bezeichnet werden will, besteht überall in den Staaten des Globalen Südens und unter amerikanischen Experten wie Jeffrey Sachs, John Mearsheimer, Ray McGovern, Chas Freeman und vielen anderen mehr die uneingeschränkte Auffassung, daß es die fünffache Ostausdehnung der NATO um 1000 km war – entgegen dem Versprechen am Ende des Kalten Krieges, die NATO „keinen Zoll“ nach Osten auszudehnen -, die den Krieg ausgelöst hat. Anfang 2022 war mit offensiven Waffensystemen in der Nähe der russischen Grenze faktisch eine umgekehrte Kuba-Krise entstanden, und Putins Appelle nach rechtlich bindenden Sicherheitsgarantien wurden schlichtweg ignoriert.
Der Krieg hätte schon im März 2022 mit dem Istanbul-Abkommen zwischen Putin und Selenskyj zu Ende kommen können, was bekanntermaßen von Boris Johnson sabotiert wurde. Jetzt nach fast vier Jahren zermürbendem Krieg und dem Verlust von Millionen Menschen ist nicht mehr zu leugnen, was der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Harald Kujat, mehrfach betont hat: daß die Ukraine zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen sei, die strategische Lage zu wenden – und jetzt schon gar nicht, wo ganze Frontabschnitte zusammenbrechen, Frontsoldaten und zwangsrekrutierte Ukrainer scharenweise desertieren und international Militärexperten darüber offen diskutieren, daß der Krieg verloren ist. Wenn der ranghöchste NATO-Offizier jetzt von Präventivschlägen spricht, ist dies im höchsten Maße verantwortungslos und kommt einem Aufruf zum kollektiven Selbstmord gleich.
In den beinahe vier Jahren, in denen dieser Zermürbungskrieg stattfindet, haben weder die EU-Kommission noch die europäischen Staatschefs auch nur ein einziges Mal den Versuch unternommen, den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Im Gegenteil, als eine diplomatische Lösung zwischen Putin und Selenskyj im März 2022 mit der Istanbul-Vereinbarung praktisch schon vereinbart war, haben Europa, und damals natürlich Biden, kommentarlos zugesehen, wie diese Chance von Boris Johnson hintertrieben wurde. Und jetzt, wo die berechtigte Aussicht besteht, daß der Krieg zwischen Trump und Putin beendet und das Verhältnis zwischen den beiden größten Atommächten normalisiert werden kann, redet die NATO von Präventivschlägen!
Die NATO ist kein atlantisches Verteidigungsbündnis mehr, sondern versteht sich als militärischer Arm, um die nach dem Ende des Kalten Krieges angestrebte unipolare Weltordnung zu verteidigen. Doch diese ist längst abgelöst durch die Partnerschaft zwischen den Staaten des Globalen Südens, die sich nicht länger den imperialen und kolonialen Strukturen des kollektiven Westens unterwerfen wollen, sondern mit ihren Organisationen BRICS und SCO eine neue Weltwirtschaftsordnung bauen, die auf Souveränität und gegenseitige gleichberechtigte Entwicklung aufgebaut ist. Wir dürfen diese neue Weltordnung, die 500 Jahre Kolonialzeit zu Ende bringt und es den Nationen der Globalen Mehrheit zum ersten Mal erlaubt, Armut und Unterentwicklung zu überwinden, nicht bekämpfen, sondern wir müssen mit diesen Staaten kooperieren und damit ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufschlagen!
In diesen Zeiten eines epochalen Wandels haben mehrere regionale Krisen das Potential, zu einem großen Krieg zu eskalieren. Zu der nach wie vor andauernden Katastrophe im Nahen Osten ist seit kurzem noch eine neue, hochgradig gefährliche Eskalation zwischen Japan und China dazugekommen. Nachdem jetzt Premierministerin Takaichi die völkerrechtlich unbestreitbare Ein-China-Politik in Frage und sogar eine militärische Intervention Japans in Taiwan in den Raum gestellt hat, wächst im gesamten indopazifischen Raum die Sorge vor dem erneut erwachten Militarismus in Japan, der dem in Europa ganz genau gleicht und die furchtbarsten Erinnerungen an das gemeinsame Vorgehen der Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg wachruft, das 27 Millionen Tote in der Sowjetunion und 35 Millionen Tote in China zu verantworten hat.
Wenn wir auch nur irgendetwas aus den beiden Weltkriegen gelernt haben, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, da anzuknüpfen, wo wir am Ende des Kalten Krieges die falsche Abzweigung genommen haben.
Damals gab es keinen Gegner mehr, man hätte also sehr einfach eine neue internationale Friedensordnung errichten können. Heute, 35 Jahre später, ist der völlige Irrtum der ebenso arroganten wie kurzlebigen Prognose des „Endes der Geschichte“ unübersehbar, ebenso wie der enorme Bumerangeffekt, den der Versuch hatte, eine unipolare Weltordnung zu errichten.
Deutschland muß seinen Austritt aus der NATO bekanntmachen und gleichzeitig eine neue Konferenz in der Tradition des Westfälischen Friedens einberufen, bei der eine neue internationale Sicherheits- und Entwicklungsarchitektur erarbeitet wird, die die Interessen einer jeden Nation auf diesem Planeten berücksichtigen muß.
Der chinesische Präsident Xi Jinping hat mit seiner Globalen Governance-Initiative bereits einen ähnlichen Ansatz vorgeschlagen. Ebenso hat Präsident Putin die Idee einer eurasischen Sicherheitsarchitektur ins Gespräch gebracht. Hoffnung gibt auch, daß in Deutschland junge Menschen an einem Schulstreik gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht teilnehmen, weil sie weder Lust haben, in einem Krieg als Kanonenfutter zu dienen, noch auf Menschen in fremden Ländern zu schießen.
Wir sind an einem Punkt in der Universalgeschichte der Menschheit angekommen, an dem wir nicht nur ein halbes Jahrtausend Kolonialismus hinter uns lassen müssen, sondern auch die Geisteshaltung, der wir zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert zu verdanken haben: die Geopolitik. Wir müssen die barbarische Vorstellung, wir bräuchten immer einen Feind und der Mensch sei des Menschen Wolf, wie Thomas Hobbes als Ideologe des Britischen Empire behauptete, ein für alle Mal hinter uns lassen. Genau dieses barbarische Menschenbild kommt in dem Werbevideo der NATO From Foresight to Warfight zum Ausdruck, in dem es heißt: „Krieg wird immer eine wesentliche menschliche Bestrebung bleiben, die Manipulation der Emotionen und des Verständnisses wird genauso wichtig wie die militärische Verhinderung des Zugangs zu unseren Territorien, der menschliche Geist an sich wird das eigentliche Schlachtfeld sein…“
Wer dieses Video anschaut und nicht dieser kranken Weltanschauung eine Absage erteilen will, der hat den Kampf um seinen eigenen Geist bereits verloren. Wir sind die einzige bekannte Gattung im Universum, die mit kreativer Vernunft ausgestattet ist, und die gilt es jetzt einzusetzen, indem wir die Idee der einen Menschheit voranstellen, wenn wir uns eine neue Ordnung geben.
zepp-larouche@eir.de



