Rede von Helga Zepp-LaRouche beim Kulturforum in Beijing
Die Weltgeschichte hat im Sinne der Dramentheorie Friedrich Schillers einen „punctum saliens“ erreicht, an dem gewissermaßen alle bisherigen Tendenzen an einen Punkt der Entscheidung gekommen sind: Hat die Menschheit, die dank thermonuklearer Waffen zum ersten Mal das Potential hat, sich und alles Leben auf der Welt auszulöschen, und die dank Internet zum ersten Mal einen nun seit 22 Monaten andauernden Genozid jeden Tag live miterleben kann, die moralische Fähigkeit zu überleben?
Es ist jedenfalls offensichtlich, daß die alte Weltordnung, so wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem nach dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hat, und mit ihr das Völkerrecht zerbrochen ist. Selbst die UN, deren Charta das wichtigste Dokument der Völkergemeinschaft ist und bleibt, ist dringend reformbedürftig, weil sie sich in ihrer gegenwärtigen Konstitution als unfähig erwiesen hat, auf Kriegsgefahr und Genozid adäquat zu reagieren.
Nun hat Präsident Xi Jinping mit seiner Idee der Zukunftsgemeinschaft der Menschheit und den vier Globalen Initiativen – die Globale Entwicklungsinitiative (GDI), die Globale Sicherheitsinitiative (GSI), die Globale Zivilisationsinitiative (GCI) und nun die Globale Governanz-Initiative (GGI) – ein Konzept vorgelegt, das ganz eindeutig die nächste Phase der menschheitsgeschichtlichen Evolution definiert.
Dieses Konzept hat mit dem Entstehen einer neuen Weltordnung durch die BRICS, die BRI und vor allem auf der Konferenz der SCO in Tianjin Gestalt angenommen und für die Globale Mehrheit der Menschheit eine ungeheuer optimistische Perspektive eröffnet, die 500jährige Epoche des Kolonialismus endgültig zu überwinden. Die chinesisch-russische Partnerschaft ist der Felsen, auf den die neue Weltordnung gebaut ist. Die Überwindung von Spannungen zwischen China und Indien, zwei Wiegen der Menschheit, die zusammen bereits 35% der Weltbevölkerung repräsentieren, ist der Wegweiser für den positiven Wandel zwischen allen Nationen, deren Beziehung durch Manipulationen aus der Kolonialzeit belastet sind.
Der tektonische Umbruch, der mit der Herausbildung einer neuen Weltordnung stattfindet, die auf der Tradition der fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der Blockfreien Bewegung gegründet ist und jetzt mit den vier Initiativen Xi Jinpings fortgesetzt wird, schafft offensichtlich die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden in der Welt. Die Attraktivität dieses Modells, das allen Nationen wirtschaftlichen Fortschritt und kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten bietet, reflektiert sich in der wachsenden Anzahl von Nationen des Globalen Südens, die sich als aktive und gleichberechtigte Teilnehmer verstehen. Wenn es nur diese Dynamik gäbe, stünde die Menschheit vor einer glänzenden, ungetrübten Zukunft.
Es wird aber alles darauf ankommen, einen Weg zu finden, wie die Nationen des vormals „kollektiven Westens“, der seit des Beginns der 2. Amtszeit Präsident Trumps, nicht mehr kollektiv ist, für die Kooperation mit der neuen entstehenden Weltordnung gewonnen werden können. Die Tatsache, daß es einer „Koalition der Willigen“ bedarf, die die Entscheidung im Konflikt um die Ukraine auf dem Schlachtfeld erzwingen wollen, zeigt, da sie selbst in Europa eine Minderheit darstellen, und selbst in dieser Koalition sind die Zustimmungsraten der jeweiligen Regierungen äußerst dürftig.
Die entstellende oder vollkommen abwesende Berichterstattung in den westlichen Mainstream-Medien über die entstehende neue Weltordnung, wie sie bei dem jüngsten SCO-Gipfel sichtbar wurde, hat zur Folge, daß die Bevölkerungen in den USA und Europa keinen Schimmer davon haben können. Statt dessen wird versucht, die Bevölkerung auf einen neuen Militarismus einzustimmen, mit Appellen wie „Deutschland muß kriegstüchtig werden“ (Pistorius), Deutschland muß die „konventionell stärkste Armee Europas“ aufbauen (Merz), und Rußland und China könnten „bis 2027 soweit erstarken, daß sie eine Konfrontation mit NATO und USA suchen“ (NATO-Oberbefehlshaber Alexus Grynkewich).
Es wäre daher dringend, Wege zu finden, der Bevölkerung der europäischen Nationen die Gefahren eines neuen Militarismus und das Potential aufzuzeigen, das in der Kooperation mit der neuen Weltordnung liegt.
Sehr geeignet dazu wäre gerade angesichts der jüngsten Annäherung zwischen China und Indien der Ansatz, den Präsident Xi im Jahre 2014 in einer Rede in New Delhi wählte:
„Schon in antiken Zeiten kam man in China zu der Einsicht, daß ein kriegerischer Staat, so groß er auch sein mag, letztlich scheitern muß. Frieden ist von überragender Bedeutung. Harmonie ohne Gleichförmigkeit und universellen Frieden gilt es zu erringen. Die chinesischen Konzepte vom ,universellen Frieden‘ und ,universeller Liebe‘ sind den indischen Konzepten von ,Vasudhaiva Kutumbakum’ (die Welt als eine Familie) und ,Ahimsa’ (keine Verletzung zufügen) sehr ähnlich.“
Präsident Xis GCI bietet einen hervorragenden Ansatz, auch mit den Kulturen des Westens einen ähnlichen Dialog auf der Basis der entwickeltsten Konzepte und Ideen zu intensivieren.
Neben Gottfried Wilhelm Leibniz, der ein großer Bewunderer der chinesischen Kultur und Philosophie war, hatte Friedrich Schiller die schönste Idee einer visionären Idee einer vereinten Menschheit, die durch die ästhetische Erziehung und Selbstkultivierung zum höchsten Ideal der Menschheit mit einander verbunden ist. Schillers Erkenntnis, daß dieses Ideal durch die ästhetische Erziehung zu erreichen ist, hatte einen großen Einfluß in China dank der Intervention des Gelehrten Cai Yuanpei, dem ersten Erziehungsminister der provisorischen Republik Chinas und späteren Präsidenten der Beijing Universität. Cai Yuanpei führte das Konzept der ästhetischen Erziehung Schillers in das chinesische Bildungswesen ein und schuf dafür eigens ein neues Wort: „meiju“.
Gleichfalls inspiriert durch Schiller Idee, die in seiner Ode an die Freude– „Alle Menschen werden Brüder“-, zum Ausdruck kommt, entwarf er die Vision einer „großen Gemeinschaft“ der gesamten Welt, „datong shijie“, die friedlich und harmonisch, ohne Armee und Krieg, zusammenlebt. Cai sah im Dialog der Kulturen den Weg zur Erreichung dieses Ziels, daß eine Nation die Kulturen anderer Völker unbedingt aufnehmen müßte: „Wirft man einen Blick auf die Entwicklung der Geschichte, so sieht man, daß die Auseinandersetzung unterschiedlicher Kulturen immer zur Entstehung einer neuen führt.“
Es gilt also, in allen Kulturen und Zivilisationen jene Ideen und Entwürfe aufzuspüren, bei denen deren beste Geister, ihre größten Dichter und Denker Vorstellungen von der gemeinsamen Zukunft der einen Menschheit entwickelt haben. Diese Ideen sind nämlich heute im Westen fast vergessen, wenigstens bei den kriegstreiberischen Kreisen, die trotz der permanenten Beschwörung der „westlichen Werte“ keine Ahnung von den wirklich großen Ideen mehr haben. Ein Austausch über die schönsten Werke der verschiedenen Kulturen auf der Ebene der Völker wird nicht nur das Verständnis, sondern zugleich die Liebe zu ihnen erwecken.
Die chinesischen Initiativen haben bereits bewiesen, daß das Prinzip „Frieden durch Entwicklung“ wirklich tiefe Konflikte überwinden kann, wie man an der chinesischen Vermittlerrolle zwischen dem Iran und Saudi Arabien, oder kürzlich zwischen Pakistan und Afghanistan sehen kann. Es besteht also die berechtigte Hoffnung, daß es mit der Kombination von gemeinsamer wirtschaftlicher Entwicklung und dem Dialog der besten Traditionen der jeweiligen Kulturen auch gelingen wird, die europäischen Nationen und sogar Amerika in diese Weltgemeinschaft einzubeziehen! Auf jeden Fall ist dies ein Ziel, dem wir uns mit der ganzen Leidenschaft der Liebe zur Menschheit widmen sollten!