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Jacques Cheminade: Warum die Ukraine nicht der Europäischen Union beitreten sollte

Jacques Cheminade: Warum die Ukraine nicht der Europäischen Union beitreten sollte

Von Jacques Cheminade

Am 7. März begann die Europäische Union mit der Prüfung der Beitrittsanträge der Ukraine, Georgiens und Moldawiens, die nach der russischen Militäroperation gegen die Ukraine eingereicht wurden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte, daß sein Land unverzüglich der EU beitreten dürfe. Gleichzeitig deutete er in einem Interview mit ABC an, daß er sich mit der Tatsache abgefunden habe, daß die Ukraine nicht der NATO beitreten werde. Die USA haben ihrerseits die Aussetzung der Importe von russischem Öl, Gas und Kohle angekündigt.

Unter diesen Umständen ist es an der Zeit, unter Berücksichtigung der vitalen Interessen Frankreichs, Europas und des ukrainischen und russischen Volkes eine rasche politische Entscheidung zu treffen, ohne weiter zu zögern und ohne vorzugeben, die Mittel zu haben, etwas zu tun, was wir nicht können.

Es kommt darauf an, die Lage in Europa jenseits geopolitischer Erwägungen im Rahmen einer Weltwirtschaft zu betrachten, in der das Interesse der Völker in ihrer gemeinsamen Entwicklung liegt. In der Tat besteht die Lösung jenseits der Situation in der Ukraine darin, eine neue internationale Wirtschafts- und Währungsordnung zu schaffen, die Frieden stiften kann, wie es seinerzeit die Westfälischen Verträge getan haben. Es gibt keine Alternative zur Schaffung der Voraussetzungen für den Frieden, denn die Alternative ist ein zerstörerischer Krieg für alle und/oder ein allgemeiner wirtschaftlicher Zusammenbruch. Das Schiller-Institut hat daher einen Aufruf zur Einberufung einer internationalen Konferenz gestartet, um eine neue Alternative der Sicherheit und Entwicklung für alle Nationen zu schaffen.1

Vor diesem Hintergrund und unter den gegenwärtigen Umständen würde die Einleitung des EU-Beitrittsverfahrens für die Ukraine die schlafwandlerische Entwicklung hin zu einer selbstmörderischen Konfrontation nur beschleunigen. Sie würde nicht nur als Provokation gegenüber Rußland erscheinen, sondern auch wirtschaftlich, strategisch und kulturell nichts bringen. Dafür gibt es folgende Gründe:

1. Rußland ist zu Recht der Ansicht, daß die nach dem Fall der Berliner Mauer gemachten Zusagen, die NATO-Truppen nicht über das wiedervereinigte Deutschland hinaus auszuweiten, nicht eingehalten wurden. Erschwerend kommt hinzu, daß die westlichen Länder nicht in der Lage oder nicht willens waren, der Ukraine die Minsker Vereinbarungen von 2015 aufzuerlegen. Präsident Putin ist der Ansicht, daß die Ukraine und Rußland historisch gesehen ein Volk sind und daß die westlichen Länder dieses Band gebrochen haben, indem sie die Ukraine zu einer Plattform für Aggressionen gegen Rußland gemacht haben.

2. Viele westliche Politiker und Agenturen haben erklärt, daß ihre Politik darin besteht, die wirtschaftliche und technologische Entwicklung Rußlands und Chinas zu verhindern. Der Grund dafür ist die wirtschaftliche und finanzielle Kontrolle ihrer Führer durch die Oligarchie der City, der Wall Street und ihrer Ableger in der Welt, während letztere ihre Macht nur durch die Beschlagnahme von Mitteln und Ressourcen, die sich derzeit außerhalb ihrer Reichweite befinden, weiter ausüben kann. Die Inflation, die ihr System ausgelöst hat, ist in der Tat auf eine rasante Emission von Geld und Krediten zurückzuführen, denen die Produktion von physischen Gütern nicht mehr entspricht. Es handelt sich um ein System des fiktiven Kapitals, das sich zwangsläufig über seine Grenzen hinaus ausdehnen muß, um zu überleben, entweder durch die Unterwerfung anderer oder durch deren wirtschaftliche und ideologische Infiltrierung. So hat eine mafiöse Logik durch eine allgemeine „Deregulierung“ die Welt erobert, angesichts der Kräfte einer Oligarchie, die mehr und mehr mit der Welt des Verbrechens und ihren Geschäften verbunden ist. Es ist also das System, das geändert werden muß, um die Bedingungen für den Frieden zu schaffen.

3. Die gegen Rußland verhängten Sanktionen werden nicht in der Lage sein, die russische Macht zu destabilisieren, die von der Mehrheit seiner Bevölkerung und seinen Streitkräften unterstützt wird. Die Aufrufe verschiedener westlicher Persönlichkeiten, Präsident Putin physisch zu beseitigen, sind in Wirklichkeit ein Eingeständnis der Ohnmacht. Unabhängig davon, wie man solche Überlegungen moralisch bewerten mag, würden sie, wenn sie Erfolg hätten, eine Situation der Unordnung und des Chaos in Europa und in der Welt hervorrufen, wie alle Präzedenzfälle zeigen.

4. Schon heute werden die von den westlichen Ländern verhängten Sanktionen durch die russischen Gegensanktionen nach hinten losgehen. Während der Stopp der russischen Öl- und Gasimporte nur 8% der amerikanischen Energieimporte betrifft, machen sie in Westeuropa 40% bzw. 30% aus. Darüber hinaus ist die europäische Industrie (Hightech, Digitaltechnik, Luftfahrt, Automobilbau usw.) auf Titan, Palladium und Lithium angewiesen, die in Rußland hergestellt werden. Unsere Landwirtschaft ist auf russische Düngemittel angewiesen. Eine allgemeine Krise wäre die Folge eines physischen Bruchs der Produktions- und Wertschöpfungsketten mit Rußland.

5. Die Aufnahme der Ukraine in die EU wäre gleichbedeutend mit der Aufnahme von NATO-Truppen auf ihrem Gebiet. In der Tat ist die EU durch Titel V, Artikel 21 und 42 des EU-Vertrags mit der NATO verbunden. Von den 27 EU-Mitgliedsstaaten gehören 21 dem integrierten Kommando der NATO an, in das Frankreich im Jahr 2008 zurückgekehrt ist. Seit 2002 haben sich die Beziehungen zwischen der EU und der NATO intensiviert. In der gemeinsamen Erklärung vom 10. Juli 2018 kommen der Präsident des Europäischen Rates, der Präsident der Europäischen Kommission und der Generalsekretär der NATO überein, „die Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO (…) in Qualität, Umfang und Intensität zu verstärken.“ Genauer gesagt ermutigen die Unterzeichner „die größtmögliche Beteiligung von EU-Mitgliedstaaten, die nicht Mitglied des Bündnisses sind, an dessen Initiativen“. Dies könnte nicht deutlicher sein, und Rußland wird die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen.

6. Aus all diesen Gründen würde der Beitritt der Ukraine zur EU von Rußland als Aggression betrachtet werden. Da ebenso klar ist, daß dies zu einem Krieg mit Rußland führen würde, zu dem wir nicht die Mittel haben und den zu führen nicht in unserem Interesse liegt, ist ein anderer Ansatz erforderlich.

7. Im Rahmen des umfassenderen Abkommens, das ein Konzept für Stabilität und Sicherheit durch gegenseitige Entwicklung in der Welt definiert, wie es im Appell des Schiller-Instituts gefordert wird, setzt der Frieden in der Ukraine drei Dinge voraus: ihre von den Großmächten garantierte Neutralität, die Achtung ihrer Grenzen und die gegenseitige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung aller Teile des Landes. Nur in diesem Rahmen, erweitert um eine neue Architektur der internationalen Sicherheit und Entwicklung, können diese drei Bedingungen in der Ukraine erfüllt werden.

8. Dies wird es der Ukraine ermöglichen, ein Beispiel für eine Politik des Friedens durch gegenseitige Entwicklung in Europa und in der Welt zu werden, im Geiste des Westfälischen Friedens. Der Einfluß ultranationalistischer und neonazistischer Kräfte auf die ukrainische Politik und einen Teil der ukrainischen Bevölkerung sowie die erzwungene Präsenz aller ausländischen Streitkräfte auf dem ukrainischen Territorium kann aufgehoben werden.

Dieser Ansatz des „Zusammentreffens von Gegensätzen“ im Namen eines höheren Prinzips ist nicht einfach, aber, noch einmal, er ist die Alternative zum Krieg und zur gegenseitigen und selbstmörderischen wirtschaftlichen Zerstörung.

Anmerkung:

1. Siehe https://schillerinstitute.com/de/blog/2022/02/24/petition-fuer-eine-internationale-konferenz-zur-schaffung-einer-neuen-sicherheits-und-entwicklungsarchitektur-fuer-alle-nationen/

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