Neunzig führende portugiesische Bürger haben am 8. April einen öffentlichen Appell an die Europäische Union gerichtet, sich auf Krisenbefugnisse zu berufen, um sich über Marktinteressen hinwegzusetzen und anzuordnen, daß die Produktion von COVID-19-Impfstoffen in jeder geeigneten Produktionseinrichtung durchgeführt wird, auch wenn diese nicht den Patentinhabern des Impfstoffs gehört.
Die Pandemie habe eine „Katastrophe“ über die Welt gebracht, und „Impfstoffe, die ein unverzichtbares Instrument im globalen Kampf gegen die Pandemie darstellen, sind zu einem öffentlichen Gut geworden. Als solches können sie nicht den Gesetzen von Angebot und Nachfrage des Marktes unterworfen werden“, erklären sie.
Sie unterstreichen, daß es in Europa rund 80 Impfstofffabriken gebe, die laut der von verschiedenen Impfstoffherstellern betriebenen Webseite vaccineseurope.eu im Jahr 2019 76% der Impfstoffe des Weltmarktes produzierten. „Der gegenwärtige Mangel an Impfstoffen in Portugal und Europa [insgesamt], der die europäischen Bürger den Impfstoffherstellern unterordnet, ist nicht nachvollziehbar. Die von der Europäischen Kommission vorgebrachten Argumente bezüglich der Art der Verträge, der vorhandenen Produktionskapazitäten und der vereinbarten Preise sind nicht akzeptabel.“
Der Aufruf erhält zusätzliches Gewicht, wenn man bedenkt, dass Portugal derzeit den rotierenden Vorsitz der Europäischen Union innehat. Zudem ist der Initiator des Aufrufs, Jose Aranda da Silva, kein Leichtgewicht: er war der erste Leiter von Infarmed, Portugals nationaler Behörde für Arzneimittel und Gesundheitsprodukte (1993-2000), und hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) mitbegründet. Zu den übrigen Unterzeichnern gehören andere ehemalige hochrangige Beamte des Gesundheitswesens, (ehemalige) Mitglieder des portugiesischen und europäischen Parlaments, zahlreiche Professoren, Mediziner, Gewerkschafter, Journalisten, ein Bischof, ein Admiral, ein Luftwaffengeneral und andere. Und über die Initiative wurde in den wichtigsten portugiesischen Medien ausführlich berichtet.
Fast drei Millionen Menschen sind an COVID-19 gestorben, heißt es in dem Aufruf. Die Europäische Kommission muß „sich über finanzielle und industrielle Interessen hinwegsetzen… In Fällen, die als ‚katastrophal‘ eingestuft werden, erlauben es europäische und nationale Gesetzgebungen den Mitgliedsstaaten, sich auf ‚Gründe des öffentlichen Interesses‘ und ‚die überragende Bedeutung der öffentlichen Gesundheit oder der nationalen Verteidigung‘ zu berufen, um Maßnahmen zu ergreifen, die die Impfstoffproduktion an Standorten erzwingen, die nicht im Besitz der Patentinhaber sind.“
Das Manifest bezieht sich dabei auf einen früheren Aufruf des Generaldirektors der Weltgesundheitsorganisation, alle Instrumente zu nutzen, einschließlich Technologietransfer und Aufhebung von Patentrechten, um Impfstoffe zu sichern.
„Angesichts der Katastrophe, die wir durchleben, angesichts des tragischen Mangels europäischen Handelns, fordern die Bürger, daß sofort Maßnahmen ergriffen werden, die geeignet sind, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Diese Maßnahmen erfordern eine transparente Weitergabe von Informationen, die Anwendung der für Katastrophensituationen vorgesehenen Gesetze und eine Mobilisierung der produktiven Ressourcen und Kapazitäten.“
Das Manifest werde international verbreitet und den Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation vorgelegt, sagte Dr. Aranda da Silva am 8. April gegenüber der portugiesischen Presseagentur Lusa. Er führte weiter aus:
Die Wissenschaft stellte sich mit finanzieller Unterstützung durch Regierungen der Herausforderung der Pandemie, aber „als die Impfstoffe auf den Markt kamen, begann das kommerzielle Spiel, anstatt sie als öffentliches Gut zu behandeln. Wenn es einen Krieg gibt, gibt es eine totale Mobilisierung. Und in diesem Krieg (gegen die Pandemie) verwenden wir nicht die angemessenen Waffen.“ Er betonte: Dies sei „keine ideologische Frage. Es ist eine pragmatische Frage. Wenn bis zum Sommer nicht alle geimpft sind, werden wir eine weitere Welle und eine große wirtschaftliche und soziale Krise bekommen.“