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Antonino Galloni: Enrico Mattei, ein Modell bis heute ?

Antonino Galloni

Ökonom und Aufsichtsrat des Istituto Nazionale Previdenza Sociale (INPS), der nationalen Sozialversicherung, Rom, Italien


Als 1948, einige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die nationale Verfassung beschlossen wurde, war Italiens Industrie- und Agrarproduktion niedriger als zehn Jahre zuvor. Eine Schlüsselfrage waren die Energiequellen, ein Problem, das der Faschismus mit einem Netz von Wasserkraftwerken angegangen war, was aus strategischer Sicht beträchtliche Nachteile hatte. Andererseits hatte die Ölära schon vor dem Krieg begonnen, und tatsächlich hatten (wie viele Historiker belegen) die Länder, die kein Öl und Gas produzierten, den Krieg u.a. auch aus diesem Grund verloren. Die Herausforderung des Atoms hatte schon begonnen, und nachdem es im Krieg entscheidend gewesen war, versprach es eine hochinteressante industrielle und zivile Nutzung: Nicht zufällig gab es schon vor der Jalta-Konferenz die Bretton-Woods-Vereinbarungen. Tatsächlich stand 1944 – ein Jahr vor Hiroshima und Nagasaki – der Sieger schon fest, da er im Besitz der Atombombe war.

Der Faschismus war die Probleme der Finanz- und Wirtschaftskrise der 30er Jahre mit einer Vorreiterrolle des Staates angegangen – das reichte vom Kredit (durch ein Tennbankengesetz 1936, ähnlich dem Glass-Steagall-Gesetz in den USA) bis zur Infrastruktur (Brücken, Straßen und Eisenbahn), und von der Industrie (IRI, der Industriekonzern mit verschiedenen Töchtern, im Staatsbesitz, aber mit marktwirtschaftlichen Methoden verwaltet) bis zur Landwirtschaft (Nutzbarmachung von Land) und zur schon erwähnten Stromerzeugung.

AGIP

Die faschistische Regierung hatte das Ölunternehmen AGIP gegründet, jedoch mit wenig Erfolg. 1945 wurde der ehemalige Partisan Enrico Mattei damit beauftragt, AGIP abzuwickeln – eine Aufgabe, die er sehr schlecht bewältigte, behaupteten damals linke wie rechte Politiker. Erstere sahen in AGIP einen nutzlosen bürokratischen Apparat, letztere befürchteten ein antiamerikanisches Vorgehen. Tatsächlich spielte Mattei zunächst auf Zeit und entwarf dann eine Strategie für die Ausweitung der Aktivitäten der Einrichtung, und schließlich verhinderte er, daß das italienische Parlament ein Gesetz beschloß, das den USA eine Art Monopol im Ölsektor zugestanden hätte.

Man muß sich nun vorstellen, welche Begeisterung die Entdeckung von Öl- und Gasfeldern in der Po-Ebene und Umgebung auslöste, und damit die Aussicht auf die Erneuerung einer kleinen staatlichen Einrichtung als ein Instrument, das Italien schon Ende der 40er Jahre erlaubte, dem Jahrtausende alten Energiemangel zu entkommen.

Mattei übernahm dabei die Führung und stieß auf viele Widerstände, überwand sie jedoch mit Hilfe politischer Unterstützung in der Christdemokratischen Partei wie auch linken Parteien (dank des antiimperialistischen Aspekts seines Unternehmens), wobei er sich auf seine Autorität als früherer Partisanenführer stützte.

Matteis Projekt war aber viel weiter gedacht und ehrgeiziger: Ausgehend von etwas, was sonst nur eine Randerscheinung war – die geringen Mengen Öl und Gas in der Po-Ebene und in der Adria -, gelang es ihm durch gewagten Einsatz politischer Unterstützung und einflußreicher Verbindungen ins Ausland, besonders in der Sowjetunion und in arabischen Ländern, Italien die Versorgung mit Öl und Gas zu sichern, die das Wirtschaftswunder möglich machte. Enrico Mattei begann unauffällig mit Geschäften mit dem Schah des Iran, nach dem fatalen Fehler der USA, Präsident Mossadegh wegen seiner Eigeninitiative auszuschalten, er wurde aber weltweit bekannt für seine revolutionären Geschäfte mit den arabischen Ländern, die eine gerechtere Aufteilung der Öleinnahmen zwischen Produzenten und Abnehmern beinhalteten. Diese Geschäfte gefielen den Russen, weil sie darin mehr soziale Gerechtigkeit und vor allem eine Schwächung des anglo-amerikanischen Einflusses in der Region sahen.

Vor Mattei waren die Abnehmer meist die westlichen Ölkonzerne gewesen, die als die „Sieben Schwestern” berüchtigt waren und miserable Preise zahlten. Mattei dagegen bot für die Bohrkonzessionen 75% der Einnahmen, wodurch die Araber mehr verdienten, der Öl- und Gaspreis in Italien niedrig blieb und die aggressive amerikanische, britische, niederländische und französische Konkurrenz ausmanövriert wurde. Tatsächlich kann man sagen, daß Mattei auf seine Weise schon zehn Jahre früher die Grundlage für die OPEC schuf.

Doch womit er sich aus der Sicht kolonialfreundlicher Kommentatoren am meisten unbeliebt machte, war sein Verhalten in Algerien, wo er einen attraktiven Vertrag mit den Sieben Schwestern ausschlug und sich offen auf die Seite der zukünftigen unabhängigen Staaten stellte. Damit zwang er die Sieben Schwestern, sich zwischen der Unterstützung für Frankreich und der für die Unabhängigkeitsbewegung zu entscheiden!

Mattei erhielt Drohungen von Agenten der französischen Fremdenlegion, und wenig später gab es in Sizilien eine Sabotage an seinem Flugzeug durch Mafiosi für ausländische „Freunde von Freunden“.

Sein Tod unter mysteriösen Umständen 1962 war unmittelbar mit diesen Umständen verbunden (ähnlich vielversprechend war auch die „inländische Verbindung” in Hinsicht auf seine Nummer Zwei, Eugenio Cefis, den Mattei selbst als CIA-Kollaborateur enttarnt hatte) – und es wurde vor Gericht bewiesen, daß es ein Mord durch eine Bombe war, die durch die Lichter oder das Landegestell des Flugzeugs gezündet wurde… – bewiesen, aber erst 43 Jahre später!

Es wäre allerdings verkürzt, seine Persönlichkeit nur wegen der hier beschriebenen Ereignisse zu würdigen. Mattei war und tat viel mehr. Man kann mit gutem Grund behaupten, daß er einerseits die Konzessionen erhielt, weil er mit den Sieben Schwestern konkurrieren und Öl aus immer tieferen Feldern bohren konnte; andererseits hatte er angemessene Raffinerien, ganz zu schweigen von den Fragen des Transports und der Verteilung.

Matteis Gesamtstrategie stützte sich auf die Bohrkonzessionen; aber Mattei wollte eine breite vertikale Integration des ganzen Apparats, von der Exploration bis zur Zapfsäule und darüber hinaus. So wurden Raffinerien und eine petrochemische Industrie geboren, die eine der besten, wenn nicht die beste der Welt war.

Dank der Zunahme der italienischen Industrie an Größe und Wirtschaftlichkeit, und das nun im internationalen Kontext, schloß Mattei Vereinbarungen mit Rußland, China und anderen großen Ländern auf fast allen Kontinenten über umfangreichen Aufbau von Infrastruktur; wozu auch Ausbildung, Kultur und erweiterter internationaler Austausch gehörten.

Nach Matteis Tod und in den folgenden zwei Jahrzehnten wuchs ENI weiter und wurde einer der größten Konzerne der Welt im Bereich von Energie, petrochemischer Industrie und Infrastruktur – vielleicht der größte, wann man an die komplementäre Rolle der anderen italienischen Staatsbetriebe, vor allem IRI denkt.

Maximales Wachstum der Volkswirtschaft

Der Erfolg von Mattei und ENI wurde möglich durch eine kapitalistische Kultur, die als oberstes Ziel auf steigende Verkäufe abzielte: Die Maximierung der Rendite war nicht auf Kapital oder Investitionen bezogen, sondern auf das maximale Wachstum in Marktbedingungen, also eine nachfragegetriebene Expansion (sei es öffentliche oder private Nachfrage).

Eine Erfolgsgeschichte dieser Methode war die Rettung des Traditionsbetriebs der mechanischen Industrie Pignone in Florenz, mit sehr starker Unterstützung des Florentiner Bürgermeisters Giorgio La Pira (ein Heiliger); aus der Rettung wurde ein großer Industrieerfolg, die Firma wurde ein Weltführer im Turbinenbau. (Ende der 90er Jahre wurde der Betrieb dann von einer Regierung mit sogenannter kommunistischer Beteiligung an General Electric verscherbelt und dann von GE ausgeschlachtet.)

Man hat Mattei vorgeworfen, er habe andere bestochen, weil er allen Parteien Geld gab und weil er gerne sagte: „Parteien sind wie Taxis, ich steige ein, fahre, zahle und steige aus.” Aber seine Wirtschaftsphilosophie – die von Mattei und La Pira – zeichnet die gesamte Wirtschaftsgeschichte der Zeit aus, von den Bretton-Woods-Vereinbarungen bis zu der reaktionären Wende Ende der 70er Jahre. Letztere sah das Hauptziel der Produktion in der Maximierung der Rendite auf Investitionen oder der Profitrate: ein Indikator rein finanzieller Art, verbunden mit Anleihen (die in den 80er Jahren mit hohen Renditen vorherrschten) und Aktien. So wurde Ende der 70er Jahre bekanntlich die Realwirtschaft geopfert auf dem Altar der Finanzen und ihren unerfüllbaren Versprechen, was in den Abgrund untragbarer Verpflichtungen führte, mit ständiger Verschuldung und allgemeinem Bankrott im Rahmen steigender Arbeitslosigkeit und eines erschreckenden sozialen Rückschritts.

Zu Matteis Zeit und noch anderthalb Jahrzehnte nach ihm war genau das Gegenteil der Fall: Expansion war die Grundlage wirtschaftlicher Entwicklung, sowohl was kapitalistische Unternehmen als auch was öffentliche Investitionen betrifft. Übrigens war dieses italienische Rezept besonders erfolgreich bei Staatsbetrieben, die nach marktwirtschaftlichen Kriterien geleitet wurden; ENI und IRI waren die herausragenden Beispiele. Tatsächlich ging die Profitrate der Investitionen gegen null, aber weil Beschäftigung und Gesamteinkommen maximiert wurden, konnte man die sozialen Kosten für Arbeitslosigkeit minimieren: Man sollte nie vergessen, daß die Auswanderung aus Italien erst mit dem Aufstieg der staatlichen Industrieunternehmen abnahm und dann ganz aufhörte.

Die Steigerung der Investitionen in Realkapital, unabhängig von direkt und unmittelbar erzielten Einnahmen, bildete den Eckstein der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung; dennoch sorgte sie für eine Tendenz, die Profitrate zu senken, mit zwei Konsequenzen: die Bedeutung der Aktionäre im Unternehmen und in der Gesellschaft nahm ab, und in der Mittel- und Arbeiterschicht wurden demokratische Erwartungen gefördert.

Gegen diese Perspektive wurde 15 Jahre nach Matteis Tod die antidemokratische Reaktion entfesselt. Im Namen des finanziellen Profits, begrenzter Ressourcen auf dem Planeten, Abbau von Steuern und Staatsausgaben begannen die Besitzinteressen, einen kulturellen und wirtschaftlichen Niedergang durchzusetzen.

Mattei hatte die Bedeutung der Umwelt wie auch der Kernenergie verstanden. Vergessen wir nicht, daß Italien seit Anfang der 60er Jahre in der Kernforschung ganz vorne stand und den ersten Kernreaktor gebaut hatte, der kein angereichertes oder militärisches Uran verwendete. Das war einigen international wohl ein Dorn im Auge, und tatsächlichen kamen aus den USA und Frankreich Vetos und Einschränkungen der Souveränität.

Entgegen dem falschen, malthusianischen Gerede des Club of Rome und seinesgleichen wußten die Leute von ENI und IRI, daß mit den technischen Innovationen der Anteil umweltschädlicher Stoffe und knapper oder wertvoller Rohstoffe pro Produktionseinheit tendenziell abnimmt. Umgekehrt bedeutet die künstliche Begrenzung der Entwicklung (was auch eine Globalisierung kennzeichnet, die statt auf Innovation und Qualität auf extremer Kostensenkung basiert), daß ein Aufhalten des technischen Fortschritts – der geboten ist, um den Ressourcenverbrauch je Produktionseinheit zu senken – eine Zunahme der Umweltverschmutzung und eine schlechte Ressourcennutzung zur Folge hat, weil die Energiedichte kaum ansteigt.

Niemand kann sagen, was Mattei in Italien und in der Welt nach 1962 getan hätte, aber wir können sicherlich annehmen, daß sein Hauptanliegen heute in Richtung BRICS gehen würde und daß er in jeder Weise die politischen Kräfte unterstützen würde, die einen Dialog und eine Zusammenarbeit mit Rußland, China und Indien begonnen haben, um auf einem erprobten Weg der Zivilisation und des Allgemeinwohls voranzuschreiten. Wir wissen jedoch, daß seine Nachfolger bei ENI keine produktive Diversifizierung entwickelten, nicht einmal in den beiden Jahrzehnten vom gewaltsamen Tod des großen Industrieunternehmers bis zum Beginn einer Wirtschaftspolitik, die die Souveränität der Nation massiv beschnitt.

Industriebetriebe mit Beteiligung des Staates, die auf der ganzen Welt bewundert waren, wurden von kleinen Journalisten als Verlustgeschäft und Quelle von Korruption schlecht gemacht. Aber die Geschichte hat uns bewiesen, wie wesentlich sie für die außergewöhnliche Entwicklung des Landes vom Ende der 50er bis in die 70er Jahre waren; verläßliche Studien zeigen, daß diese Betriebe relativ mehr investierten als die Privatbetriebe, so daß, wenn man Gewinn und Amortisierung aufrechnet, die Nettoprofitrate vergleichbar war.

Die Korruption dagegen war tatsächlich ein ernstes Problem, aber das Ende des Modells der Staatsindustrie und hoher öffentlicher Investitionen hat in Italien nur das Ende der Entwicklung ausgelöst, nicht jedoch das Ende der Korruption. Die muß und kann überwunden werden, auch ohne Millionen junge Menschen durch eine 30 Jahre lange Sparpolitik, die im Land „Moral“ durchsetzen soll, zu lebenslanger Arbeitslosigkeit zu verurteilen. Diese Politik brachte kaum Resultate im Kampf gegen Korruption, doch um so größere Resultate beim Verlust von Souveränität, Einbruch der Investitionen und dem Niedergang von Bildungswesen, Forschung, Gesundheitswesen und Infrastruktur allgemein.

Um zeitgemäß im Sinne Matteis zu handeln, müssen wir also zu einer sozial tragfähigen Wirtschaft zurückkehren, mit öffentlichen Investitionen, Forschung und Entwicklung, Bildung, Berufsausbildung, adäquater Infrastruktur, zufriedenstellender Gesundheitsversorgung. Diese Ziele lassen sich nur erreichen durch eine Rückkehr zu Währungssouveränität, zu einer klaren Trennung zwischen Kreditbanken und spekulativem Finanzgeschäft sowie eine Staatsverwaltung, die direkt mit dem Bürger zusammenarbeitet, um für die Umsetzung von Gesetzen und Regeln zu sorgen.

All dies muß im Kontext einer Zusammenarbeit souveräner Staaten geschehen, die im Geist des Westfälischen Friedens einander respektieren, für das gemeinsame Interesse, zu wachsen und Erfahrungen und Fähigkeiten auszutauschen. Genau das war die Methode Matteis und vieler anderer italienischer Staatsmänner, die nicht mehr leben, aber nicht veraltet sind: Dialog zwischen verschiedenen Völkern und Kulturen, Ressourcen und Fähigkeiten verfügbar machen mit dem einen Ziel – ein Wirtschaftswachstum zu erzeugen, das tragfähig ist, weil es dem Bedürfnis der Völker nach Wohlstand und Freiheit entspricht.

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