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Alain Corvez : Frankreich sollte sein gaullistisches Erbe wiederbeleben

Alain Corvez

Berater für internationale strategische Fragen, ehem. Berater des französischen Verteidigungs- und des Innenministeriums für internationale Beziehungen, Paris.


 

In seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 24. September 2013 hatte der iranische Präsident Hassan Ruhani einige wichtige Dinge darüber zu sagen, wie man die Beziehungen zwischen den Nationen der Welt verbessern könnte. Er forderte Mäßigung in den Forderungen der Staaten und schlug vor, auf die Formel „Die militärische Option ist auf dem Tisch“ zu verzichten und statt dessen den Ansatz „Frieden ist immer möglich“ zu wählen. Er schlug die Formel vor, „Die Welt gegen Gewalt und Terrorismus“.

Die Welt sei nicht das Resultat eines Gleichgewichts zwischen zwei Blöcken, und sie sei auch nicht von einer einzigen Macht beherrscht, sondern sie sei multipolar geworden, und alle Staaten, deren Machtbasis auf der Wahlurne beruhten, also den Willen des Volkes ausdrückten, hätten gleichen Anspruch auf Respekt für ihre inneren Eigenheiten und ihre legitimen Interessen. Keine Kultur sei den anderen überlegen, und niemand solle versuchen, sich durchzusetzen.

Aber offensichtlich wird ein solches Programm, das auf Vernunft und universellem Humanismus beruht, heute nicht angewendet, denn überall sind endlose Konflikte ausgebrochen, insbesondere im Nahen Osten, aber auch mitten in Europa in der Ukraine oder in Asien, wo Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten, ihren Verbündeten und China aufgeflammt sind. Da eine direkte nukleare Konfrontation zwischen den Mächten, die diese fatale Waffe besitzen, wegen der Abschreckung unmöglich ist – sie gilt immer noch, auch wenn einige etwas anderes sagen mögen -, verfolgen sie ihre strategischen Ziele, indem sie regionale Krisen in Gang halten und ihre Untergebenen als Stellvertreter einsetzen.

Rußlands Präsident Putin hielt 2007 bei der Münchener Sicherheitskonferenz eine bemerkenswerte Rede, in der er sagte, es werde ein neues Gleichgewicht auf der Welt ohne Hegemonien entstehen, und man müsse sich daran anpassen. Er fügte hinzu, die Demokratie sollte sich überall durchsetzen, sollte aber die Unterschiede der Rassen, Kulturen und Meinungen respektieren, und man dürfe nicht zulassen, daß eine autoritäre, übermächtige Mehrheit eine oder mehrere Minderheiten unterdrücke, vielmehr müsse die Mehrheit die Hoffnungen und Wünsche der gesamten Bevölkerung berücksichtigen.

Vor nicht langer Zeit folgte eine UN-Resolution, welche die internationale Gemeinschaft auffordert, neue Beziehungen zwischen den Staaten zu schaffen, ihre Unterschiede anzuerkennen und sie zu respektieren, und die Nationen aufruft, ihre berechtigten Interesse mit Mäßigung zu vertreten und gewaltbringenden Extremismus zurückzuweisen. Diese Resolution, die Präsident Ruhanis Vorschläge aufgriff, wurde am 18. Dezember 2013 von der Generalversammlung beschlossen. Sie fordert die Nationen auf, ihre Interessen durch Dialog zu vertreten und Unterschiede zu respektieren, um „eine Welt ohne Gewalt und Extremismus“ aufzubauen, in der unvermeidliche Rivalitäten durch internationale Konsultationen und nicht durch Krieg beigelegt werden.

Die westlichen Medien, das muß gesagt werden, haben über dieses wichtige Ereignis kaum berichtet.

Gleichgewicht des Schreckens

Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel, weil die Menschen heute eine Kraft einsetzen können, mit der sie in einem Anfall von Wahnsinn unseren ganzen Planeten zerstören könnten. Bisher hat die Abschreckung gewirkt und uns vor einer Katastrophe bewahrt. Bisher hat das Gleichgewicht des Schreckens diejenigen, die versucht waren, ihre Feinde durch einen Schlag mit Kernwaffen zu zerstören, davon abgehalten, weil sie wußten, daß sie sonst durch automatische Vergeltungsschläge selbst vernichtet würden. Aber bestimmte „Falken“ wollen uns offenbar davon einreden, daß die Vereinigten Staaten einen Raketenabwehrschild haben, der sie vor atomaren Zweitschlägen schütze, was ihnen eine völlige militärische Übermacht verschaffen und das Konzept der Abschreckung aufheben würde. Das ist offensichtlich nicht wahr, denn kein Schild oder „Eiserner Dom“ ist vollkommen undurchdringlich, und auf absehbare Zeit wird es keiner sein. Außerdem erfinden die neuen Weltraummächte ständig neue Waffen, um die Überlegenheit irgendeines Gegners zunichte zu machen.

Die Völker der Welt müssen vor dem Völkerrecht gleich sein, unabhängig von ihrem wirtschaftlichen und kulturellen Reichtum. Keine Kultur darf für sich in Anspruch nehmen, überlegen zu sein, oder sich für den Leuchtturm der Welt halten. Die Freiheit, deren Statue am Eingang zur Hudson Bay die Welt erleuchtet, gehört allen Nationen, und niemand kann beanspruchen, er habe Vorrang, selbst wenn er momentan eine wirtschaftliche oder militärische Überlegenheit gegenüber anderen genießt.

Frankreich täte gut daran, sich an sein geistiges Erbe der „Aufklärung“ zu erinnern, und daran, welch weltweites Ansehen General de Gaulle ihm verschaffte, indem er sich weigerte, Frankreich an einen Block zu binden – in einer Zeit, in der es viel schwieriger war, die NATO zu verlassen, als heute. Er verteidigte das Recht aller Völker, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden, und setzte sich für die Verständigung zwischen allen Nationen des Globus ein, die ihn bei seinen vielen Reisen um die Welt gerne empfingen, weil er mit den verschiedenen Kulturen vertraut war und sich überall, wo er hinkam – in Asien, in Afrika, in Lateinamerika – dafür einsetzte, alle Männer und Frauen mit ihren Unterschieden zu respektieren. Das leitete auch seinen Wunsch, ein Europa der Nationen aufzubauen, das deren besondere Eigenheiten und Souveränität erhält. Dieses Europa sollte seiner Ansicht nach eine weitreichende Zusammenarbeit mit Rußland und anderen aufnehmen.

Für uns in Frankreich, die wir dank unserer Überseeterritorien auf allen fünf Kontinenten die zweite Exklusive Wirtschaftszone haben, sollte all dies Grund sein, eine Politik der Weltbürger zu verfolgen, indem wir mit allen Nationen Beziehungen auf der Grundlage von Respekt, Vertrauen und Kooperation unterhalten.

In dieser Hinsicht ist die außenpolitische Entscheidung unseres Landes, sich in seinem Handeln auf die sunnitischen arabischen Monarchien zu stützen, die die Menschenrechte vollkommen mißachten, und Länder anzugreifen, die gegen den von diesen Monarchien geförderten islamistischen Terror kämpfen, völlig absurd und widerspricht unserer historischen Tradition.

Noch schlimmer, alle Experten sind sich einig, daß diese reaktionären Regime sich nicht mehr lange halten werden, weil ihnen innere Auseinandersetzungen drohen, verschiedene Oppositionsbewegungen stärker werden und ihre amerikanische Schutzmacht weit weg ist. Wenn auf der Arabischen Halbinsel demokratisch gewählte Staatsführungen an die Macht kommen, wie werden sie über unser stillschweigendes Einverständnis mit ihren früheren Unterdrückern urteilen? Wenn Israel heute faktisch der Verbündete [dieser reaktionären Golfstaaten] geworden ist, dann deshalb, weil heute auch Israel die Entfernung der Vereinigten Staaten fürchtet, die der „Fitna“ – dem Streit zwischen Schiiten und Sunniten – ein Ende setzen wollen, und weil es vom Terrorismus des DAESH (ISIS, der Islamischen Staat) – profitiert, der Israel noch nie bedroht hat. Der Verkauf von Flugzeugen, Schiffen und Waffensystemen rechtfertigt eine solche Mesalliance nicht. Tatsächlich verändern sogar die Vereinigten Staaten ihre Politik im Nahen Osten, indem sie sich dem Iran annähern, und sie könnten letztendlich beschließen, stärker gegen ISIS zu kämpfen, dessen Unterstützer sie sehr wohl kennen. Man kann verstehen, wenn Israel und die Wahabiten auf der Halbinsel Angst haben, sie könnten im selben lecken Boot sitzen.

De Gaulles Vision

General de Gaulle äußerte viele Male den Wunsch nach einer friedlichen Welt, und er gründete seine prophetische Vision auf eine tiefgreifende philosophische Reflektion, die ihn veranlaßte, der Welt Botschaften zu übermitteln, die den Mächtigen nicht immer gefielen, aber von den Völkern unterstützt wurden. In einer Rede vor mexikanischen Akademikern während seines Besuchs in Mexiko 1964 übermittelte er eine philosophische und politische Botschaft, die noch heute, 60 Jahre später, erstaunlich modern ist. Ich will hier einen kurzen Auszug aus dieser Rede zitieren:

„Tatsächlich bleibt, jenseits der schrumpfenden Distanzen, der schwächer werdenden Ideologien und der politischen Systeme, die ihren Schwung verlieren, und wenn sich die Menschheit nicht eines Tages in einer monströsen Akt der Selbstzerstörung vernichtet, die Tatsache, die unsere Zukunft beherrschen wird, die Einheit des Universums: eine Sache – die des Menschen; eine Notwendigkeit – die des Fortschritts der Welt und daher auch der Unterstützung all jener Länder, die dies wünschen, um sich zu entwickeln; eine Pflicht – die des Friedens. Diese bilden für unsere Gattung die Grundlage unserer Existenz.“

General de Gaulle war somit der erste, der sich für eine andere Organisation der Welt einsetzte, in einer Zeit, als die beiden rivalisierenden Blöcke die Welt beherrschten und keine Herausforderung ihrer Hegemonie zuließen.

Bei einer Pressekonferenz im Elysée-Palast am 9. September 1965 schlug er sogar ein neues Weltwährungssystem vor:

„Daher können wir – wenn man es für richtig hält, daß ein internationales System die monetären Beziehungen regelt – nicht anerkennen, daß das Geld eines bestimmten Staates einen automatischen, privilegierten Wert gegenüber dem Gold hat, das der einzige wahre Standard ist, bleiben wird und bleiben muß. Daher können wir, die wir zusammen mit vier anderen Mächten Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen waren und wünschen, daß die UN weiterhin der Treffpunkt der Delegationen aller Völker und ein Forum für offene Debatten bleibt, auch in der Finanzordnung nicht akzeptieren, daß wir durch bewaffnete Interventionen unter Verstoß gegen ihre Charta und denen wir unsere Zustimmung verweigert haben, gebunden werden. Auf diese Weise können wir letztendlich dem Bündnis der freien Völker, der Europäischen Gemeinschaft und den monetären Institutionen der Vereinten Nationen am besten dienen. Tatsächlich wird Frankreich, wenn es seine Unabhängigkeit zurückgewonnen hat, in der Lage sein – trotz aller Ideologien und Hegemonien der Großmächte, trotz aller rassischen Leidenschaften und Vorurteile, trotz der Rivalitäten und Ambitionen der Nationen – ein Vorreiter der Zusammenarbeit zu sein, ohne die die Schwierigkeiten, Interventionen und Konflikte, die zum Krieg führen würden, sich weiter ausbreiten würden.“

In derselben Pressekonferenz beschrieb er auch seine eigene Zukunftsvision für die Welt:

„Die gleiche Eintracht zwischen diesen Mächten, die die Mittel zu Krieg und Frieden haben, ist, aufgrund der historischen Periode, in der wir leben, unverzichtbar für das Verständnis und die Zusammenarbeit, die die Welt zwischen allen ihren Rassen, allen Regierungsformen und allen Völkern herstellen muß und ohne die sie früher oder später auf ihre eigene Zerstörung zusteuert. Tatsächlich waren es jene fünf Staaten, von denen letztendlich das Schicksal Südostasiens abhängt und die über Atomwaffen verfügen, die vor 20 Jahren die Organisation der Vereinten Nationen gründeten und permanente Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind. Sie könnten schon morgen – wenn sie es wünschten und natürlich, sobald sie zusammenkommen – dafür sorgen, daß diese Institution, anstatt Schauplatz der Rivalität zwischen den beiden Hegemonien zu sein, der Rahmen wird, in dem über die Entwicklung der ganzen Welt beraten wird und in der das Gewissen der menschlichen Gemeinschaft somit stärker würde. Es ist offensichtlich, daß ein solches Projekt derzeit keine Chance hat, realisiert zu werden. Aber wenn eine solche Annäherung und Einigung der führenden Nationen, die für die Welt verantwortlich sind, zu diesem Zweck einmal möglich werden wird, dann wird Frankreich seinerseits sehr gerne bereit sein, dies zu unterstützen.“

Die BRICS und Europa

Von dieser Vision erfüllt, sehen wir natürlich mit großem Interesse und Sympathie die Bemühungen der BRICS und darüber hinaus der aufstrebenden Nationen, auf „Win-win“-Vereinbarungen hinzuarbeiten. Das große Projekt der Neuen Seidenstraße und der mit ihr verbundenen, zahlreichen Infrastrukturprojekte, Chinas Schaffung der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), die allen offensteht und niemandem ein Vetorecht einräumt, die Schaffung der Eurasischen Wirtschaftsunion durch Rußland, die zu einer Eurasischen Währungsunion führen könnte, sind konkrete Hinweise darauf, daß sich die Welt von der amerikanischen Vorherrschaft befreit hat.

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, die man normalerweise den „Westen“ nennt, repräsentieren nur 800 bis 1000 Millionen Einwohner, je nachdem, wen man zu dieser in ihren Werten immer unklarer definierten Gruppe zählt. Die übrige Welt organisiert sich, ganz im Einklang mit der internationalen Realität, auf der Grundlage ihres demographischen, wirtschaftlichen und sogar militärischen Gewichts: Die BRICS verkörpern ein Fünftel der Weltwirtschaft, aber sie haben nur 11% der Stimmrechte im Weltwährungsfonds (IWF). Es ist ganz normal, wenn die Welt das Gleichgewicht auf einer realistischeren, fairen Grundlage neu austariert.

In dieser neuen Weltordnung täte Europa gut daran, darüber nachzudenken, wo sein Interesse liegt: Europa sollte den Kontinent in Zusammenarbeit mit Rußland ordnen, statt den von den Vereinigten Staaten betriebenen Konfrontationskurs mitzutragen. Die Feindseligkeit der Europäischen Union widerspricht dem Interesse der Mitgliedstaaten und treibt Moskau nur noch mehr auf Asien zu, insbesondere auf Beijing. Offenbar hat die Europäische Union, die politisch zunehmend irrelevant wird und wirtschaftlich in lähmenden Strukturen gefangen ist, diese neue geopolitische Ordnung nicht verstanden. Nur Frankreich und Deutschland versuchen, die Lage in der Ukraine zu beruhigen, aber weit stärkere Initiativen werden notwendig sein, um eine Einigung mit Garantien von beiden Seiten zu erreichen. Die ukrainische Krise könnte eine dauerhafte drastische Veränderung der supranationalen Organisation [der EU] katalysieren, so daß die großen Gründerstaaten sich nicht länger in allen Fragen der internationalen Beziehungen kleinen Staaten unterordnen müssen.

Sanktionen sind kontraproduktiv, und mehrere Länder haben sich – manchmal sogar aggressiv – gegen deren Verlängerung ausgesprochen, darunter Italien, Ungarn, die Slowakei, Griechenland und Zypern.

Frankreich und Deutschland, die in ihrer Funktion als Motoren der EU gefangen sind, zögern, sich offen für eine Abschwächung oder Aufhebung der Sanktionen einzusetzen, aber wie wir wissen, machen viele wirtschaftlichen Gruppen in diesen Ländern Druck für eine Änderung der Politik gegenüber Rußland. Man hört mehr und mehr Stimmen, die die Verweigerung der Lieferung des Hubschrauberträgers Mistral an Rußland als einen inakzeptablen Vertragsbruch und schändlichen Wortbruch Frankreichs verurteilen.

Die auswärtigen Beziehungen der Mitgliedstaaten sind einer Politik untergeordnet, die in Brüssel unter amerikanischem Einfluß beschlossen wird – einem Einfluß, der in Polen und den baltischen Staaten besonders stark ist. Wie lange werden die großen Gründerstaaten noch diese Unterordnung hinnehmen, die sie zwingt, Positionen zu übernehmen, die ihren Interessen widersprechen?

Ich mache hier keine Vorhersagen, aber es ist klar, daß der innere Dissens in der EU eine Umstrukturierung erfordert, auf der Grundlage eines Europas souveräner Nationen, die die Zusammenarbeit und den Dialog mit Rußland wieder aufgreifen, was letztendlich zu einer wirtschaftlichen und strategischen Partnerschaft führen wird. Die Zukunft der Menschheit liegt in einer ausgewogenen Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Welt beim Aufbau ihrer „Win-win“-Projekte, die für das gemeinsame Wohl die Eigenheiten und Kulturen der anderen respektieren. Krieg kann nicht länger ein Mittel zur Beilegung von Differenzen oder Rivalitäten zwischen den Nationen sein, die durch diplomatischen Austausch beigelegt werden müssen. Eine allgemeine, ausgewogene Abrüstung sollte unternommen werden, der sich Frankreich anschließen sollte, sobald die wichtigsten Besitzer von Massenvernichtungswaffen anfangen, ihre tödlichen Arsenale abzubauen.

Lassen Sie mich zum Schluß Präsident Ruhanis Wort aufgreifen: „Frieden ist immer möglich“, anstelle der kriegerischen Drohung, „die militärische Option ist auf dem Tisch“.

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