Der folgende Text ist das bearbeitete und leicht gekürzte Transkript eines Interviews mit Justin Yifu Lin, das der EIR-Redakteur Michael Billington am 20. Dezember 2021 führte. Dr. Lin war von 2008 bis 2012 Chefökonom und Senior-Vizepräsident der Weltbank und ist heute Dekan des Instituts für Neue Strukturelle Ökonomie und des Instituts für Süd-Süd-Kooperation und Entwicklung sowie Professor und Ehrendekan der Nationalen Schule für Entwicklung an der Universität Peking. Zwischenüberschriften und Fußnoten wurden hinzugefügt.
Was verhindert eine Zusammenarbeit der USA und Chinas im Entwicklungsbereich?
EIR:
Hier ist Mike Billington von Executive Intelligence Review, dem Schiller-Institut und der LaRouche-Organisation. Ich spreche mit Dr. Justin Yifu Lin.
Dr. Lin: Vielen Dank für die Gelegenheit, dieses Gespräch mit Ihnen zu führen.
EIR: Wie Sie wahrscheinlich wissen – ich habe Ihnen etwas davon geschickt -, gibt es mehrere hochrangige Diplomaten und Geheimdienstexperten in den Vereinigten Staaten – darunter Botschafter Chas Freeman, der über große Erfahrung in China verfügt, und der ehemalige CIA-Beamte Graham Fuller -, die davor warnen, daß die US-Außenpolitik zur „Waffe“ geworden ist, daß die Diplomatie verlorengegangen ist, und daß das die Gefahr eines Krieges der USA gegen China und Rußland erhöht.
Sie haben in der Vergangenheit für etwas plädiert, das man als „wirtschaftliche Abschreckung“ bezeichnen könnte: Wenn Chinas Wirtschaft deutlich größer wird als die der USA, dann könne „die eigene Entwicklung der Vereinigten Staaten die Möglichkeiten des chinesischen Marktes nicht ignorieren“, und dies würde zu einer „friedlichen und gemeinsamen Entwicklung zwischen China und den Vereinigten Staaten“ führen. Was steht Ihrer Meinung nach dieser friedlichen und gemeinsamen Entwicklung jetzt im Wege?
Dr. Lin: Vielen Dank für diese für unsere heutige Welt sehr wichtige Frage. Zunächst einmal müssen wir verstehen, daß die Zusammenarbeit zwischen den USA und China für viele globale Herausforderungen von entscheidender Bedeutung ist, denn die USA sind das größte und stärkste Land der Welt, und China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft, was die wirtschaftliche Größe angeht. Ihre Zusammenarbeit bildet die Grundlage für die Bekämpfung des Klimawandels, die Eindämmung von Pandemien und die Unterstützung anderer Länder bei der Überwindung ihrer Armut, um die [UN-] Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 zu erreichen. Die Zusammenarbeit ist also wichtig, und unsere Zusammenarbeit ist sicherlich gut für die USA, für China und für die ganze Welt.
Aber wir haben nicht erlebt, daß die Zusammenarbeit zustande kam. In den letzten Jahren gab es viele Spannungen. Ich glaube, das liegt daran, daß die USA das Vertrauen in sich selbst verloren haben. Die USA waren das ganze 20. Jahrhundert hindurch die größte Volkswirtschaft der Welt. Gemessen an der Kaufkraftparität hat China die USA 2014 überholt, aber die USA haben aus eigenem Interesse versucht, ihre Dominanz aufrechtzuerhalten, wirtschaftlich, politisch und so weiter.
Und so gibt es nun einige, die an der Strategie der USA beteiligt sind, die versuchen, China einzudämmen. Und diese Strategie spiegelt sich natürlich in der Diplomatie und Außenpolitik der USA gegenüber China wider. Das bedroht natürlich die Stabilität der Welt, denn erstens brauchen wir Zusammenarbeit, um globale Probleme anzugehen, aber zweitens ist diese Art von Spannung eine Bedrohung für die Grundlage der Zusammenarbeit; sie trägt zur Unsicherheit in der Welt bei. Das ist sehr schlecht.
Wie kann die Schwierigkeit behoben werden?
Wie können wir das verbessern? Nun, eine Möglichkeit wäre, daß China seine wirtschaftliche Größe reduziert. Wenn China sein BIP um die Hälfte reduzieren würde, dann würden sich die USA nicht bedroht fühlen. Aber das ist unmöglich, denn Entwicklung ist ein Menschenrecht. Das steht in der UN-Charta und diese Charta wird von den USA und vielen anderen Ländern seit Jahrzehnten befürwortet. Es gibt also keinen Grund, warum China sein Einkommen um die Hälfte oder mehr kürzen sollte, um den USA zu gefallen.
Der andere Weg ist die Fortsetzung von Entwicklung und Wachstum. Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem ich behaupte, wenn China die Hälfte des Pro-Kopf-BIP der USA erreichen kann – ich denke, das ist sehr moderat, nur die Hälfte der USA -, spätestens dann werden die USA China akzeptieren, und zwar aus drei Gründen:
Erstens, wenn Chinas Pro-Kopf-BIP halb so hoch ist wie das der USA – wir hätten sicherlich immer noch ein Gefälle im Land -, dann haben unsere entwickelteren Regionen, wie die großen Städte Peking und Shanghai und die entwickelteren Gebiete, unsere Küstenprovinzen wie Shandong, Jiangsu, Zhejiang, Fujian und Guangdong zusammen eine Bevölkerung von etwas mehr als 400 Millionen. Die Bevölkerung der USA liegt derzeit bei etwa 340 Millionen, aber die Bevölkerung der USA wird sicherlich weiter wachsen.
In den stärker entwickelten Regionen Chinas wird das Pro-Kopf-BIP dann etwa so hoch sein wie in den USA. Sowohl das Pro-Kopf-BIP als auch die wirtschaftliche Größe werden in etwa so hoch sein wie in den USA. Wir wissen, daß das Pro-Kopf-BIP die durchschnittliche Arbeitsproduktivität dieses Teils der Wirtschaft widerspiegelt, und die durchschnittliche Arbeitsproduktivität spiegelt die industrielle Leistung, die technologische Leistung wider.
Zu diesem Zeitpunkt werden die USA also nicht mehr die technologische Überlegenheit haben, mit der sie die chinesische Entwicklung abwürgen könnten. Gegenwärtig haben die USA eine Reihe von Hightech-Unternehmen aus China auf ihre sogenannte Entity List1 gesetzt, ohne konkrete Beweise für ihre Anschuldigungen zu haben. Das liegt nur daran, daß die USA ihre technologische Überlegenheit nutzen wollen, um Chinas Entwicklung abzuwürgen. Aber wenn zu diesem späteren Zeitpunkt die fortgeschritteneren Regionen in China das gleiche Einkommensniveau, das gleiche technologische Niveau hätten, dann wären die USA dazu nicht mehr in der Lage.
Zweitens ist unsere Bevölkerungszahl etwa viermal so groß wie die der USA. Wenn unser BIP pro Kopf halb so groß ist wie das der USA, dann wird Chinas wirtschaftliche Größe doppelt so groß sein wie die der USA. Das ist eine Tatsache.
Und drittens wird China zu diesem Zeitpunkt die größte Volkswirtschaft sein, und China wird weiter wachsen. Wenn die USA zum Beispiel die Unternehmen auf der Fortune-500-Liste behalten wollen, dürfen sie den chinesischen Markt nicht verlieren. Und auch im Handel ist es sicherlich eine Win-Win-Situation. Aber wir wissen, daß im Handel die kleinere Wirtschaft mehr profitiert als die größere Wirtschaft. Bis dahin wird Chinas Wirtschaft doppelt so groß sein wie die der USA, so daß die USA im Handel mit China mehr gewinnen werden. Wenn den US-Politikern also wirklich etwas an ihrem eigenen Volk liegt, dann sind freundschaftliche Beziehungen zu China notwendig. Es wäre für die USA notwendig, das Wohlergehen ihrer eigenen Bevölkerung zu verbessern und die Spitzenposition ihrer Unternehmen in der Welt zu erhalten.
Gegen die wirtschaftliche Unterdrückung durch die USA
EIR: Sie haben schon einmal argumentiert, daß die USA die japanische Wirtschaft in den 80er und 90er Jahren absichtlich unterdrückt haben, um, wie Sie sagten, „zu verhindern, daß sie den wirtschaftlichen Status der USA bedrohen“. Und wie Sie gerade sagten, tun sie jetzt so ziemlich das Gleiche gegenüber China, indem sie diese chinesischen Unternehmen mit Anschuldigungen etc. unterdrücken. Wie wehrt China sich heute dagegen? Sie haben bereits gesagt, was Sie für die Zukunft vorschlagen, aber wie kann China diesem Angriff auf Huawei und andere Unternehmen heute begegnen?
Dr. Lin: Ich denke, das erste, was wir tun müssen, ist, ruhig und offen zu bleiben. Wir müssen unsere Wirtschaft dazu bringen, ihre Markteffizienz weiter zu verbessern. Die USA haben heute eine gewisse Überlegenheit, einen Vorsprung bei bestimmten Technologien, aber die USA sind nicht das einzige Land, das über derartige Technologien verfügt. Die fortgeschrittenen Länder in Europa – Deutschland, Frankreich und Italien – sowie Japan und Korea verfügen ebenfalls über viele fortschrittliche Technologien. China sollte offen bleiben, um Zugang zu den Technologien anderer fortschrittlicher Länder zu haben, solange es sich nicht um Technologien handelt, bei denen die USA das Monopol haben.
Hochentwickelte Technologien erfordern eine eigene intensive Forschung und Entwicklung – das ist ein bißchen teuer, und wenn solche technologischen Durchbrüche erzielt werden, hängt die Rentabilität dieser Unternehmen davon ab, wie groß der Markt ist. Gemessen an der Kaufkraftparität ist China bereits der größte Markt der Welt. Seit 2008 hat China jedes Jahr etwa 30% zum globalen Marktwachstum beigetragen. Solange China seinen Markt öffnen kann, denke ich, werden andere Hightech-Unternehmen bereit stehen, die Lücke zu füllen, die entsteht, wenn die USA ihre Unternehmen daran hindern, solche Technologien nach China zu exportieren. China muß sich nur auf einige wenige Technologien konzentrieren, für die die USA weltweit der einzige Anbieter sind. Auf diese Weise werden wir nicht abgewürgt werden.
Zweitens müssen wir unsere Volkswirtschaften weiter entwickeln. Derzeit beträgt unser BIP, gemessen an der Kaufkraftparität, etwa 25% des US-BIP, und nach dem Marktwechselkurs beträgt unser BIP etwa ein Sechstel des US-BIP. Wie gesagt, wenn wir unser Markt-Momentum aufrechterhalten, werden wir das Dilemma lösen.
„Industriepolitik“ contra „Freihandel“
EIR: Sie schreiben seit Jahren über die Tatsache, daß die fortgeschrittenen Industrienationen den Stand, auf dem sie sich heute befinden, dadurch erreicht haben, daß sie staatlich gelenkte Kredite und das, was Sie „Industriepolitik“ nennen, eingesetzt haben, um aufstrebende Industrien und die für solche Entwicklung notwendige Forschung zu schützen und zu fördern. Doch nun verweigern diese fortgeschrittenen Länder den heutigen Schwellenländern unter dem Vorwand des „Freihandels“ die gleichen Maßnahmen.
Der koreanische Wirtschaftswissenschaftler Chang Ha-joon bezeichnet das als „Wegstoßen der Leiter“. Lyndon LaRouche hat es als den Hauptunterschied zwischen dem britischen System des „Freihandels“ und dem ursprünglichen Amerikanischen System des staatlichen Schutzes und gelenkten Kredits herausgestellt. Ich habe auch geschrieben, daß das chinesische Wirtschaftsmodell, für das Sie heute werben, dem Amerikanischen System – Leuten wie Alexander Hamilton, Friedrich List und Henry Carey – näher steht als dem, das heute in den USA selbst praktiziert wird. Wie sehen Sie das?
Dr. Lin: Ich stimme dem voll und ganz zu, keine Frage. In der Tat haben nicht nur die USA ihre eigenen Industrien während der Aufholphase geschützt, sondern auch Großbritannien praktizierte dasselbe. Vor dem 17. Jahrhundert versuchte Großbritannien, mit den Niederlanden gleichzuziehen, denn damals war der niederländische Wolltextilsektor weiter entwickelt als der britische. Das BIP der Niederlande war etwa 30% höher als das britische. Großbritannien wandte also ähnliche Strategien an, um seine eigene Wolltextilindustrie zu schützen, und schuf alle möglichen Anreize, um die Ausrüstung aus den Niederlanden nach Großbritannien zu schmuggeln und Anreize zu schaffen, um Handwerker des Textilsektors aus den Niederlanden nach Großbritannien zu holen.
Das ist genau derselbe Prozeß, wie ihn Hamilton und List darlegen. Erst nach der industriellen Revolution wandte Großbritannien sich dem Freihandel zu. Großbritannien war damals das fortschrittlichste Land der Welt, und seine Industrie war die fortschrittlichste der Welt. Sie wollten ihre Produkte in andere Länder exportieren und begannen daher, den Freihandel zu befürworten.
Damals wollten die USA aufholen, und so verfolgten sie genau dieselbe Politik wie Großbritannien im 17. Jahrhundert, als Großbritannien die Niederlande einholen wollte. Wenn man sich die Geschichte ansieht, waren nur wenige Länder in der Lage, sich zu industrialisieren und aufzuholen. Man kann sehen, daß alle Länder bei ihrem Aufholprozeß die aktive Unterstützung der Regierung in Anspruch nahmen, um ihre industrielle Modernisierung voranzutreiben.
Großbritannien und die USA haben, nachdem sie zu den fortschrittlichsten Ländern aufgestiegen waren, einerseits ihren Wählern gegenüber für den Freihandel plädiert, gleichzeitig aber auch aktiv Forschung und Entwicklung gefördert, um ihre Technologie weiter zu verbessern. Auf diese Weise konnten sie ihre Technologie weiter verbessern und auch neue, höherwertige Industrien entwickeln. Ihre Technologien waren an der Weltspitze, und wenn sie neue Technologien haben wollten, mußten sie diese selbst erfinden.
Die Erfindung von Technologien besteht aus zwei Teilen. Der eine ist die Grundlagenforschung, der andere die Entwicklung neuer Produkte auf der Grundlage von Durchbrüchen in der Grundlagenforschung. Privatunternehmen haben natürlich einen Anreiz, neue Technologien und neue Produkte zu entwickeln, denn wenn sie erfolgreich sind, können sie Patente erhalten und dann bis zu 17 oder 20 Jahre lang eine Monopolstellung auf dem Weltmarkt haben. Wenn man aber gleichzeitig keine Durchbrüche in der Grundlagenforschung erzielt, wird es für sie sehr schwierig oder sogar unmöglich, neue Produkte und Technologien zu entwickeln.
Aber wissen Sie, die Grundlagenforschung ist ein öffentliches Gut, und deshalb hat der private Sektor keinen Anreiz, Grundlagenforschung zu betreiben. Wenn man sich die Länder mit hohem Einkommen anschaut, sieht man, daß deren Regierungen alle die Grundlagenforschung fördern. Das ist für sie eine Notwendigkeit, um weiterhin neue Technologien, neue Produkte und so weiter zu entwickeln. Sie nutzen immer noch die Industriepolitik. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß sie sich an der Weltspitze [neuer Technologien] befinden, und deshalb ist eine Industriepolitik in den fortgeschrittenen Ländern, die Marktversagen beheben soll, anders als Industriepolitik, die Marktversagen in einem Entwicklungsland beheben soll.
Vom Wesen her ist es dasselbe, aber die Bereiche, in denen der Staat seinen Beitrag leisten muß, sind unterschiedlich. Vor einigen Jahren erschien ein berühmtes Buch mit dem Titel The Entrepreneurial State von Mariana Mazzucato.2 Ihr Thema ist: Alle wichtigen und wettbewerbsfähigen Industriezweige in den USA sind heute das Ergebnis der aktiven Unterstützung der Regierung für die Grundlagenforschung in der vorangegangenen Periode. Der Bereich, in dem die Regierung eines Landes ihre Anstrengungen verstärken muß, ist also je nach Entwicklungsstand unterschiedlich.
Hamilton vs. Jefferson
In den Vereinigten Staaten gibt es zwei Traditionen: Die eine Tradition ist die Hamilton-Tradition, die argumentiert, daß der Staat Unterstützung leisten sollte, um die Hindernisse für die weitere Entwicklung zu überwinden. Die andere Tradition ist die Jefferson-Tradition, die besagt, daß der Staat nichts tun und dem Markt das Funktionieren überlassen sollte – der Staat sollte minimal sein.
In der Praxis haben sich die USA seit der Gründung der Nation an Hamilton orientiert. Aber in der Rhetorik sind sie völlig von der Jefferson-Tradition beherrscht. Ich glaube, es gibt eine Kluft zwischen der Realität und ihrer Rhetorik, aber leider war ihre Rhetorik so mächtig, daß sie sich auf die Entwicklungsländer auswirkte. Ihnen wurde von Ihrer Regierung geraten, nichts zu tun, und das Ergebnis war – mit Ausnahme einiger weniger Länder, deren Regierungen der Hamilton-Tradition folgten und in der Lage waren, sich zu industrialisieren und aufzuholen -, daß andere Länder von der Jefferson-Tradition dazu verleitet wurden, nichts zu tun, und deshalb nicht in der Lage waren, den Abstand zu den fortgeschrittenen Ländern zu verringern.
„Geldrechnung“ contra „Vermögensrechnung“
EIR: Sie und andere chinesische Vertreter, darunter auch Ministerpräsident Li Keqiang, fordern eine neue Methode zur Erfassung der Stärke von Nationen. Sie argumentieren, daß die ausschließliche Betrachtung des BIP und der Schulden – also der Geldseite – Ihrer Meinung nach „schwerwiegende Mängel“ aufweist, da nur monetäre Daten berücksichtigt werden, aber die zugrundeliegenden nationalen Vermögenswerte, einschließlich Humankapital, Naturkapital und produziertem Kapital, unberücksichtigt bleiben. Sie nennen diese alternative Methode „Vermögensrechnung“ (wealth accounting). Wie weit ist diese Idee in China oder anderswo entwickelt und umgesetzt worden?
Dr. Lin: Zunächst einmal freue ich mich, daß in einigen Ländern die Bereitschaft zur Veränderung wächst. Das BIP ist ein Flußkonzept – wieviel man jedes Jahr produziert. Aber die jährliche Produktion hängt vom Bestand des Reichtums ab, einschließlich des Humankapitals, der natürlichen Ressourcen, der biologischen Vielfalt sowie des produzierten Kapitals: Ausrüstung, Maschinen und auch Infrastruktur. All dies ist der Reichtum einer Nation und die Grundlage für die Produktion von Waren und Dienstleistungen, die das BIP erzeugen.
In der Vergangenheit haben wir uns nur mit dem Flußkonzept, dem BIP, befaßt, ohne auf den Zustand der Grundlage für die Erzeugung des Flusses zu achten. Die Grundlage sollte auf dem Reichtum beruhen – dem Vermögen, das wir gerade beschrieben haben. Ich freue mich, daß die Notwendigkeit einer Änderung des Konzepts zunehmend anerkannt wird, auch vom IWF, der kürzlich ein Papier vorgelegt hat, in dem es heißt, daß eine Regierung, die Schulden zur Finanzierung von Infrastrukturinvestitionen einsetzt, Vermögen schafft, anders als eine Regierung, die diese Schulden zur Finanzierung von Konsum einsetzt – das sind reine Schulden.
Wenn wir also die Verschuldung danach berechnen, ob die Regierung die Schulden zur Finanzierung von Infrastruktur oder anderen Verbesserungen des Humankapitals verwendet, dann trägt das dazu bei, daß das Land neue Einkommensströme generieren kann und damit die Fähigkeit zur Rückzahlung ihrer Schulden verbessert. In der Vergangenheit, als wir über den Rahmen für die Schuldentragfähigkeit sprachen, wurde in diesem Rahmen nur die Bruttoverschuldung berechnet, ohne die Vermögensseite zu berücksichtigen. Der IWF forderte heute eine Überarbeitung seines Rahmens für die Schuldentragfähigkeit. Wir freuen uns also darüber, daß dieses umfassendere Konzept nun zunehmend anerkannt und in die politischen Überlegungen einbezogen wird.
EIR: Waren Sie und andere chinesische Wirtschaftswissenschaftler an dieser Änderung im IWF beteiligt?
Dr. Lin: Als ich bei der Weltbank war, habe ich angefangen, mich dafür einzusetzen. Ich schrieb Grundsatzpapiere, um das zu fördern. Die Überzeugungen und Verhaltensweisen der Menschen zu ändern, braucht natürlich Zeit. Ich war von 2008 bis 2012 Chefvolkswirt der Weltbank. Der Vorschlag, auf den neuen Rahmen umzustellen, kam erst etwa vier Jahre nach meinem Ausscheiden! Ich denke also, wenn wir die Welt verändern wollen, sollten Gespräche wie dieses mit Ihnen und mir und Menschen mit einem besseren Konzept, mit besseren Ideen, nicht aufhören, sich dafür einzusetzen. Und je mehr Menschen das verstehen, desto mehr denke ich, daß sich die Welt letztendlich zum Besseren verändern wird.
EIR: Sie greifen die neoliberale Orthodoxie an. Aber als Sie zwischen 2008 und 2012 bei der Weltbank waren, haben Sie diese als die vorherrschende Ideologie bei der Weltbank und dem IWF hautnah erlebt.
Ich vermute, Sie erklären jetzt, wie Sie damals damit umgegangen sind und wie Ihre Argumente längerfristig wirken. Ist das so richtig?
Dr. Lin: Ja, das ist ganz richtig. Als ich zum Beispiel bei der Weltbank anfing, sagte ich: „Okay, der Strukturwandel ist die Grundlage für eine inklusive und nachhaltige Entwicklung in jedem Land. Aber wenn man sich den Strukturwandel ansieht, muß man sich nicht nur auf die Unternehmer verlassen, um Innovationen zu haben, sondern die Unternehmer müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen, mit einer angemessenen Infrastruktur ausgestattet werden. Man muß eine angemessene finanzielle Unterstützung bereitstellen. Es bedarf einer Verbesserung der Infrastruktur, der Institutionen und so weiter. Auch rechtlicher Institutionen. All diese Dinge sind für einzelne Unternehmen nicht zu bewältigen. Sie brauchen dazu den Staat.
Aber die Kapazitäten und Ressourcen des Staates sind begrenzt. Man muß die begrenzten Kapazitäten und Ressourcen strategisch einsetzen. Das heißt, man muß sich bestimmte Bereiche aussuchen, die man fördern will. Und die erfordern natürlich die sogenannte Industriepolitik. Zu Beginn war Industriepolitik in den internationalen Entwicklungsorganisationen, einschließlich der Weltbank, ein Tabu. Aber ich habe angefangen, dafür zu werben. Es freut mich zu sehen, daß immer mehr Menschen akzeptieren, daß eine Industriepolitik notwendig ist – die US-Regierung eingeschlossen, die jetzt offen sagt: Wir sind für eine Industriepolitik für unsere zukünftige Entwicklung. Ein Beispiel ist die Infrastruktur. Seit 2008 plädiere ich dafür, in die Infrastruktur zu investieren, um einerseits der Notwendigkeit antizyklischer Maßnahmen gerecht zu werden, andererseits aber auch, um die Grundlage für eine langfristige Entwicklung in den Entwicklungsländern zu schaffen. So werden also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Damals bestand die antizyklische Intervention hauptsächlich in der Bereitstellung von Rettungspaketen für entlassene Arbeitnehmer und ähnliches. Ich sehe natürlich ein, daß es wichtig ist, die Wirtschaft zu stabilisieren. Aber wenn man nur, sagen wir mal, Arbeitslosenunterstützung bereitstellt, dann geht es zwar um den Konsum, aber man trägt nicht dazu bei, das Wachstumspotential in der Zukunft zu erhöhen. Wenn man in die Infrastruktur investiert, schafft man [nicht nur] Arbeitsplätze, sondern verringert den Bedarf an Arbeitslosenunterstützung und legt gleichzeitig den Grundstein für langfristiges Wachstum.
Am Anfang waren die Menschen sehr zurückhaltend. Aber ich freue mich, daß die Weltbank, der IWF und die Europäische Union und bis zu einem gewissen Grad auch die USA die Idee akzeptieren und begonnen haben, die Notwendigkeit von Infrastrukturen zu befürworten. Kürzlich hat die Regierung Biden dem Kongreß Mittel zur Unterstützung von Infrastrukturinvestitionen vorgeschlagen – diese Art von Ideen meine ich. Als ich bei der Weltbank anfing, dafür zu plädieren, war das für viele Leute ein Fremdwort. Sie dachten, Infrastruktur ist eine Investition, also wird der Markt das schon regeln. Aber wie wir sehen, ist der Markt dazu nicht in der Lage, und deshalb brauchen wir eine aktive Beteiligung der Regierung. Nach und nach begannen die Menschen, viele Ideen, die ich bei der Weltbank vertreten hatte, aufzugreifen und in ihre Programme aufzunehmen.
Die Macht der großen Ideen
EIR: Auf der anderen Seite behandeln die USA und Europa ihre enorme Schuldenkrise weiterhin so, daß sie einfach Geld drucken – durch Quantitative Lockerung (QE) und andere Programme. Obwohl sie also das riesige Defizit in der Infrastruktur erkennen und einige kleine Anstrengungen in dieser Richtung unternehmen, fahren sie mit der QE fort, so daß heute eine Hyperinflation droht, und ich glaube, sogar die Insider-Gurus der Wall Street und der City erkennen, daß die sehr große Gefahr einer Hyperinflation besteht. Was ist Ihre Meinung dazu?
Dr. Lin: Ja, ich denke, um ihre Politik zu ändern, ist es unerläßlich, ihre Ideen, ihre politischen Orientierungen zu ändern.
In diesem Punkt stimme ich mit Keynes überein. Im letzten Satz seiner Allgemeinen Theorie sagt er: „Aber früher oder später sind es die Ideen, nicht die Besitzstände, die zum Guten oder zum Bösen gefährlich sind.“ In der Vergangenheit wurde die Welt durch solche unangemessenen neoliberalen Ideen beeinflußt, so daß die Regierungspolitik von solchen fehlgeleiteten Ideen geprägt wurde.
Daher ist es für Ihr Institut und für Wissenschaftler wie mich sehr wichtig, für alternative Ideen einzutreten und diese vorzustellen, um die Probleme anzugehen und unsere Arbeitsweise in den einzelnen Ländern und auch auf der Welt zu verbessern. Am Ende werden die Menschen den Nutzen erkennen und anfangen, etwas zu ändern. Am Anfang sind es vielleicht nur ganz kleine Schritte. Aber wenn sie erst einmal die Macht der richtigen Interventionen, die Macht der richtigen Politik sehen, bin ich hoffnungsvoll. Ich glaube, daß sich die Welt zum Besseren wenden wird. Ich wünsche mir, daß die richtige Idee am Ende die Debatte gewinnt.
EIR: Als ich Ihre Idee der „Vermögensrechnung“ betrachtete, die über die monetären Zahlen von BIP und Schulden hinausgeht, erinnerte mich das an Lyndon LaRouches Idee eines nicht-monetären Maßes für wirtschaftlichen Fortschritt, das er „relative potentielle Bevölkerungsdichte“ nannte. Er vertrat die Auffassung, daß dieses Maß von der Verwandlung der physischen Wirtschaft durch die Rate der Entwicklung neuer physikalischer Prinzipien bestimmt wird, die in der Natur entdeckt und dann durch neue Werkzeugmaschinen, die diese neuen Prinzipien nutzen, auf den Produktionsprozeß angewandt werden. Sehen Sie darin eine Ähnlichkeit mit Ihrer Idee der „Vermögensrechnung“?
Dr. Lin: Ja, ich glaube, diese Idee liegt dem sehr nahe, was wir gerade besprochen haben und wofür ich schon seit langem eintrete. Und wir sehen, daß wir dieselbe Weisheit teilen und unsere Ideen, unsere Vorschläge in dieselbe Richtung gehen. Wir müssen uns also zusammentun, um durch Ihr Institut und mein Institut die richtigen Ideen vorzuschlagen und sie mehr Menschen zu vermitteln.
Die Gürtel- und Straßeninitiative
EIR: Sie haben vor kurzem zusammen mit Ihrer Mitarbeiterin Dr. Wang Yan, die auch auf einer der Konferenzen des Schiller-Instituts gesprochen hat, einen Artikel mit dem Titel „Entwicklung beginnt zu Hause“ verfaßt,3 in dem Sie den Ansatz des IWF und der Weltbank zur Entwicklung Afrikas mit dem chinesischen Ansatz vergleichen und dabei Ihre Idee der „Vermögensbuchhaltung“ verwenden. In diesem Artikel sagten Sie, daß trotz jahrzehntelanger Entwicklungshilfe aus dem Westen die Engpässe in der Infrastruktur nicht überwunden wurden, und das sei der Hauptgrund dafür, daß die afrikanischen Länder chinesische Investitionen sehr schätzen, weil dabei die Infrastruktur als Mittel zur Steigerung der Produktivität des gesamten Landes und zur Überwindung der Armut besonders betont wird.
Wie Sie wissen, haben das Schiller-Institut und EIR seit den 90er Jahren, eigentlich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Idee der Neuen Seidenstraße als Mittel zum Erreichen von „Frieden durch Entwicklung“ stark gefördert. Die von Präsident Xi Jinping [2013] ins Leben gerufene Gürtel- und Straßen-Initiative (BRI) ist natürlich ganz in diesem Sinne zu sehen. Wie bewerten Sie die bisherigen Fortschritte der BRI in Afrika und anderswo?
Dr. Lin: Es freut mich zu sehen, daß diese neuen Ideen angenommen und auch in der Praxis umgesetzt werden. Zum Beispiel die Gürtel- und Straßen-Initiative: Es gibt bereits 145 Länder und mehr als 30 internationale Organisationen, die das strategische Kooperationsabkommen mit China unterzeichnet haben. Ich freue mich, daß diese Idee in der Welt breite Akzeptanz gefunden hat.
China hat auch trotz der Pandemie die Verbesserung der Infrastruktur auf der Welt weiter gefördert, und solche Investitionen schaffen sicherlich die Grundlagen für die Zukunft, verbessern aber gleichzeitig auch die Beschäftigung und die wirtschaftliche Entwicklung, selbst in diesen Pandemiezeiten. Ich freue mich auch, daß die europäischen Länder jetzt mit dem European Gateway eine ähnliche Strategie vorschlagen, um die Infrastruktur zu verbessern und Verbindungen zu anderen Ländern herzustellen. Ich denke, die Welt bewegt sich in die gleiche Richtung.
Die Lücke der Infrastruktur ist so groß, daß kein Land allein das alles schaffen kann. Deshalb ist es wünschenswert, daß wir uns die Hände reichen mit allen Initiativen – von China, von europäischen Ländern, von Japan, von den USA, denn im Grunde genommen geht es uns um die Menschheit, um die Zukunft der Erde, um die Zukunft der Menschen. Solange wir dazu beitragen, sollten wir uns die Hände reichen. Wir sollten nicht in jedem Land für politische Zwecke Hindernisse für unsere Zusammenarbeit schaffen.
Ein modernes, globales Gesundheitssystem
EIR: In dem Artikel über die Entwicklung Afrikas machen Sie den IWF und die Weltbank direkt verantwortlich für die „neoliberale Orthodoxie“ und deren Ergebnis, daß viele Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen immer noch unter grundlegenden Mängeln leiden, wie dem Mangel an Personal und Ressourcen im Gesundheitswesen. Sie stellen fest, selbst nach 70 Jahren Entwicklungshilfe herrsche immer noch eine „Unfähigkeit, sauberes Wasser, Strom und sanitäre Anlagen bereitzustellen“.
Wie Sie wissen, hat die Präsidentin des Schiller-Instituts, Helga Zepp-LaRouche, das „Komitee für den Zusammenfall der Gegensätze“ gegründet, ausgehend von einer Idee des Genies Nikolaus von Kues aus dem 15. Jahrhundert, das zu einer weltweiten Mobilisierung aufruft, um die von Ihnen beschriebene Gesundheitskrise anzugehen und in jedem Land ein modernes Gesundheitssystem zu schaffen, damit diese Pandemie und künftige Pandemien besiegt werden können. Ich weiß, daß China als Teil seiner Initiative eine „Gesundheits-Seidenstraße“ ins Leben gerufen hat. Was denken Sie über die globale Zusammenarbeit, um ein solches Gesundheitssystem in jedem Land zu schaffen?
Dr. Lin: Ich glaube, daß angesichts dieser Pandemie ein enormer Bedarf besteht, und China trägt sicherlich zu dem bei, was Sie über die Gesundheitsversorgung insgesamt gesagt haben. China hat bereits zwei Milliarden Dosen Impfstoff für Afrika und andere Teile der Welt bereitgestellt – ein Drittel aller weltweiten Impfstoffdosen außerhalb Chinas. Aber das reicht nicht aus. Wir müssen uns also mehr anstrengen und zusammenarbeiten. Andernfalls könnte sich die COVID-19-Pandemie hinziehen, und je länger sie andauert, desto schwieriger wird es, sie in den Griff zu bekommen, weil ständig neue Mutationen auftauchen werden, die die Wirksamkeit der Impfstoffe beeinträchtigen. Wir müssen uns also zusammentun, um die Pandemie einzudämmen, und je früher, desto besser.
Wir müssen auch die Grundlagen dafür schaffen, ähnliche Herausforderungen in der Zukunft zu bewältigen. Wenn ein solches bedrohliches Virus auftaucht, sollten wir umgehend damit fertig werden. Wir sollten es sofort unterdrücken. Und dazu brauchen wir eine weltweite Zusammenarbeit. Daher halte ich die Forderung [nach einem modernen Gesundheitssystem in jedem Land] für sehr wichtig, und wir sollten uns gemeinsam dafür einsetzen.
Operation Ibn Sina
EIR: Lassen Sie mich die schreckliche Situation in Afghanistan ansprechen, wo, wie Sie wissen, 40 Jahre Krieg und nun das Einfrieren der sehr knappen Reserven dieses Landes durch die US-Notenbank und mehrere europäische Banken sowie die Verhängung von Sanktionen und sogar die Einstellung der Hilfe von IWF und Weltbank zu einer Bedrohung geführt haben, die man nur als einen Völkermord durch Hunger und Krankheiten in diesem Land bezeichnen kann.
Konkret hat die Weltbank in den letzten 20 Jahren während des Krieges und der Besatzung durch die USA und die NATO das Gesundheitssystem des Landes gestützt, aber diese Unterstützung wurde komplett gestrichen, so daß das Land praktisch überhaupt kein öffentliches Gesundheitssystem mehr hat. Dazu hat Helga Zepp-LaRouche ein weiteres Projekt ins Leben gerufen, sie nennt es „Projekt Ibn Sina“, nach dem persischen Medizingenie aus dem 11. Jahrhundert, der aus dieser Region, aus Afghanistan stammte. Unser Vorschlag fordert nicht nur Nothilfe und die Freigabe der Gelder, sondern auch den Aufbau der Infrastruktur des Landes, den Sie auch betonen, durch die Einbindung Afghanistans in die BRI und insbesondere die Ausweitung des Chinesisch-Pakistanischen Wirtschaftskorridors (CPEC) nach Afghanistan. Glauben Sie, daß das möglich ist?
Dr. Lin: Ich denke, es ist möglich, wenn uns die Menschheit wirklich am Herzen liegt. Ich denke, daß die Unterstützung in der Gesundheitsversorgung, in der medizinischen Situation, bedingungslos sein sollte. Die Bedingungen in Afrika, in Afghanistan und anderen Entwicklungsländern werden sich verbessern, sobald sich ihre Gesundheit und ihre wirtschaftliche Entwicklung verbessern. Dann kann die soziale und politische Stabilität dort aufrechterhalten werden. Ich bin mir sicher, daß das nicht nur für das einzelne Land gut ist, sondern auch für die globale Gemeinschaft, weil wir dann in einer besseren Situation sind, um zusammenzuarbeiten und mehr Kooperation zu haben, und es wird auch die Zahl der Flüchtlinge, legal und illegal, in die Länder mit hohem Einkommen reduzieren.
Und Sie wissen, daß dies auch eine große Herausforderung für die Länder mit hohem Einkommen sein wird. In einigen Bereichen sollte die Unterstützung also bedingungslos sein, denn nur so kann man Menschlichkeit erreichen. Wenn uns die Menschen wirklich am Herzen liegen, dann sollten wir diese Grundbedürfnisse unterstützen, egal unter welchen Bedingungen.
Aussichten auf eine „größere Harmonie“ und Frieden
EIR: Richtig. Wie Sie wissen, haben die USA und China im Januar 2020 die „Phase eins“ eines Handelsabkommens zwischen den USA und China geschlossen. [Vizepremier] Liu He war im Weißen Haus anwesend, und Präsident Xi Jinping telefonierte mit Präsident Donald Trump. Damals kündigte Trump an, er werde China bald einen zweiten Besuch abstatten, und er freue sich darauf, „weiterhin eine Zukunft von größerer Harmonie, Wohlstand und Handel zu schmieden“, was zu einem „noch stärkeren Weltfrieden“ führen würde.
Nun, das ist offensichtlich nicht geschehen. Als es den USA nicht gelang, die COVID-19-Pandemie einzudämmen, verfiel Trump schließlich auf die antagonistische Haltung gegenüber China, die sein Außenminister Mike Pompeo zum Ausdruck brachte, indem er China für praktisch jeden Mißerfolg in den Vereinigten Staaten verantwortlich machte. Und obwohl der derzeitige Außenminister Tony Blinken die gleiche feindselige Haltung gegenüber China einnimmt, hat Präsident Biden mehrere lange Gespräche mit Präsident Xi geführt. Sehen Sie eine Chance, daß die Zusammenarbeit zwischen den Präsidenten Biden und Xi zu einer „größeren Harmonie“ führt?
Dr. Lin: Ich glaube, daß Chinas Tür immer offen ist, und wie wir zu Beginn sagten, wird die Zusammenarbeit zwischen China und den USA die Grundlage für die Bewältigung vieler globaler Herausforderungen bilden, denen wir heute gegenüberstehen. Sie wird also von entscheidender Bedeutung sein.
Zu den Gründen, warum sie nicht zustande gekommen ist: Es liegt wohl an den Problemen in den Vereinigten Staaten. Wenn man in die Vergangenheit schaut, haben die USA immer gerne andere Länder als Sündenbock für ihre eigenen Probleme benutzt. Das mag den Politikern zwar kurzfristig einen gewissen politischen Nutzen verschaffen, aber langfristig verschlimmert sich die Angelegenheit dadurch nur.
Daher hoffe ich, daß die Politiker und die intellektuellen Kreise in den USA die Weisheit haben, die Wurzeln ihrer eigenen Probleme zu verstehen, statt andere Länder als Ausrede oder Sündenbock für ihre eigenen Probleme zu benutzen. Einige wenige Politiker haben kurzfristigen politischen Gewinn, aber auf Kosten des Wohlergehens der ganzen Nation. Ich hoffe, daß sich diese Situation bessern wird. Wenn diese Gewohnheit, andere Länder zum Sündenbock für die eigenen Probleme zu machen, abgelegt wird, dann wird die Zusammenarbeit zwischen den USA und China sicherlich gut für Amerika, für China und für die Welt sein.
Schaffung einer Kultur von Wissenschaft und Kunst
EIR: Lyndon LaRouche hat sich in seiner eigenen Arbeit sehr auf die Eigenschaft der Kreativität konzentriert, die den Menschen vom Tier unterscheidet, und zwar sowohl in wissenschaftlichen Untersuchungen als auch in künstlerischen Entdeckungen, insbesondere in der klassischen Musik. In diesem Sinne betonte er, daß wissenschaftliche Bildung und ästhetische Erziehung Hand in Hand gehen müssen, um die volle Entfaltung der schöpferischen Kräfte unserer Jugend und unserer Bevölkerung zu ermöglichen.
Mir persönlich ist besonders aufgefallen, daß es in China nach den dunklen Tagen der Kulturrevolution eine neue Wertschätzung für die klassischen Traditionen Chinas gibt, für Konfuzius und Menzius und die großen Denker der Renaissance der Song-Dynastie, wie Zhu Xi und Shen Guo, und daß das parallel zu den unglaublichen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen in China geschieht, und gleichzeitig Chinas zunehmende Anerkennung der großen kulturellen Entwicklungen in der westlichen Kultur, der westlichen klassischen Musik usw. Wie sehen Sie die Beziehung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft und der ästhetischen Seite der kulturellen Entwicklung?
Dr. Lin: Ich sehe, daß Wissenschaft und Kunst sich gegenseitig ergänzen, es sind beides Bereiche, in denen wir Menschen unser Potential ganz entfalten können. Wir sollten uns also nicht nur auf eines konzentrieren und andere vernachlässigen, wenn wir eine bessere Gesellschaft haben wollen. Wir wollen den Menschen auch die Möglichkeit geben, sich selbst mit größeren Potentialen zu entwickeln. Und wie Sie beschrieben haben, versuchen wir in China jetzt, unsere traditionelle Kultur – die Wertschätzung von Kunst, Musik, Klassikern, nicht nur aus China, sondern auch aus anderen Kulturen – in unsere Bildungsprogramme einzubringen. Das ist ein gutes Zeichen. Ich bin sicher, daß das Chinas Verjüngung auf eine höhere Stufe heben wird, nicht nur in materieller, sondern auch in kultureller und geistiger Hinsicht.
EIR: Ich danke Ihnen.
Gibt es noch andere Gedanken, die Sie den Lesern und Unterstützern der LaRouche-Organisation mitteilen möchten?
Dr. Lin: Ich freue mich sehr über diese Gelegenheit und hoffe, daß unsere Stimme in noch mehr Ecken der Welt gehört wird, denn im Grunde geht es uns allen um die Menschen, und wir alle wollen eine bessere Gesellschaft für jedes Land der Welt. Und so hoffe ich, daß unsere Botschaft in der Welt Gehör findet und ankommt.
EIR: Ich danke Ihnen vielmals. Ich hoffe, daß wir diese Zusammenarbeit weiter ausbauen können. Helga Zepp-LaRouche hat immer wieder betont, wenn wir ein neues Paradigma für die Menschheit schaffen wollen, dann bedeutet das, daß jede Kultur auf ihre größten Momente zurückgreift und daß wir zusammenarbeiten, um eine wahrhaft menschliche Renaissance herbeizuführen – nicht nur eine europäische Renaissance oder eine chinesische Renaissance oder eine islamische Renaissance -, sondern daß wir die Menschheit zusammenbringen, um uns mit unserem gemeinsamen Menschsein auseinanderzusetzen. Das ist die einzige Grundlage, auf der wir diesen Abstieg in Konflikte, Krieg und Depression beenden können.
Dr. Lin: Sehr gut. Ich danke Ihnen vielmals.
Anmerkungen:
1. Die „Entity List” ist eine Liste von Handelsrestriktionen des Büros für Industrie und Sicherheit des US-Handelsministeriums, die ausländische Personen, Einrichtungen und Regierungen aufführt, die besonderen Auflagen für den Export oder Transfer bestimmter US-Technologien unterworfen sind; darunter Einrichtungen, die Aktivitäten betreiben, „die vom US-Außenministerium sanktioniert sind oder gegen die nationale Sicherheit und/oder außenpolitische Interessen der USA gerichtet sind“
2. Dt.: Das Kapital des Staates: Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, Kunstmann, München 2014.