Dies ist die redigierte Abschrift des Vortrags von José Vega, einem Aktivisten des Schiller-Instituts, im zweiten Abschnitt der Jugendkonferenz des Schiller-Instituts „Die Welt hat eine Wahl: Aussterben oder die Ära von LaRouche“ am 26. September 2020, der sich mit dem Thema „Wissenschaft, Kultur und Großprojekte einer globalen Renaissance“ befaßte.
Aus urheberrechtlichen Gründen muß ich meinen Vortrag über Beethoven ohne Musikbeispiele halten, aber ich denke, das kann sogar ein Vorteil sein, denn ich werde Ihnen etwas Interessantes beweisen.
Beethoven beginnt 1799 zu erkennen, daß etwas mit seinem Gehör nicht stimmt. Es sieht so aus, als würde er vielleicht taub werden. So versucht er in den Jahren 1799-1800 zu verstehen, was los ist. 1802 schreibt er dann, er habe sich damit abgefunden, daß er vielleicht nie geheilt wird. Er hat noch die Hoffnung, daß er eines Tages irgendwie geheilt werden könnte, aber letztendlich, sagt er, ist es, wie es ist.
Zwölf Jahre später, 1814, ist Beethoven völlig taub. Beethoven lebt noch weitere 13 Jahre, bis 1827, aber er ist völlig taub. Im Alter von 44 bis zum Tod mit 57 Jahren ist er also taub; er kann nichts hören. Er hört nichts mehr, auch nicht seine eigene Musik.
Aber was bedeutet das genau? Schließlich schrieb Beethoven in der Zeit von 1814 bis 1827 sechs Klaviersonaten, Nr. 27-32. Er schrieb zwei Cello-Sonaten, Nr. 4 und 5. Er schrieb die Sinfonie Nr. 8 und seine berühmteste Sinfonie Nr. 9. Das ist die mit dem Chor „Ode an die Freude“. Er schrieb die späten Streichquartette – op. 127, 130, 133 und 135, mit der Großen Fuge. Wenn Sie das noch nicht gehört haben, sollten Sie es sich anhören; es ist erstaunlich. Es gibt dort eine Doppelfuge. Was ist das? Hören Sie es sich an, dann werden Sie es herausfinden. Und natürlich die Missa Solemnis, das ist eine Messe, ein Vokalwerk. Man sagt, es sei das schwierigste Chorwerk, das heutzutage aufgeführt wird.
Aber wie hat er das gemacht? Er hat so viel geschrieben, mehr als das Genannte. Wie konnte er das tun, ohne irgend etwas von dem zu hören, was er nach 1814 komponierte? Was ging da vor sich?
Beethoven pflegte zu bemerken, daß es in der Musik nicht darum geht, was man hört. Was bedeutet das? Mozart und wahrscheinlich auch Bach hätten das Gleiche gesagt: In der Musik geht es nicht um das, was man hört. Obwohl das bei Beethoven etwas anderes ist, da Beethoven in seinem letzten Lebensabschnitt tatsächlich nicht mehr hören konnte. Und doch ist der letzte Abschnitt seines Lebens der, in dem er seine größten Kompositionen geschaffen hat, wie viele Leute sagen.
Ich bin der Meinung, sie sind alle großartig, auch wenn einige besser sind als andere. Meine persönlichen Favoriten sind die späten Streichquartette. Aber wie hat er das gemacht? Was passiert dort, daß man so großartige Kunst- und Musikwerke komponieren kann, obwohl man nichts hört?
Vielleicht geht es nicht um das, was man hört. Nehmen Sie zum Beispiel Helen Keller. Helen Keller schreibt 1924 einen Brief an das New Yorker Symphonieorchester. Hier ist, was in dem Brief steht:
„Liebe Freunde,
Ich habe die Freude, Ihnen sagen zu können, daß ich, obwohl taub und blind, gestern Abend eine herrliche Stunde damit verbracht habe, Beethovens 9. Sinfonie über das Radio zu hören.
Ich will damit nicht sagen, daß ich die Musik in dem Sinne gehört habe, wie andere Menschen sie gehört haben. Und ich weiß nicht, ob ich Ihnen verständlich machen kann, wie es mir möglich war, Freude an der Sinfonie zu haben. Es war für mich selbst eine große Überraschung.
Ich hatte in meiner Zeitschrift für Blinde von dem Glück gelesen, das das Radio den Blinden überall brachte. Ich war erfreut zu wissen, daß die Blinden eine neue Quelle des Vergnügens gefunden hatten, aber ich hätte mir nicht träumen lassen, daß ich an ihrer Freude teilhaben könnte. Gestern Abend, als die Familie Ihrer wunderbaren Interpretation der unsterblichen Symphonie lauschte, schlug mir jemand vor, meine Hand auf den Empfänger zu legen und zu sehen, ob ich etwas von den Vibrationen spüren könnte. Er schraubte die Deckel ab, und ich berührte leicht die empfindliche Membran.
Zu meinem Erstaunen entdeckte ich, daß ich nicht nur die Vibrationen, sondern auch den leidenschaftlichen Rhythmus, das Pochen und den Drang der Musik spüren konnte. Die ineinander verschlungenen und ineinander greifenden Schwingungen der verschiedenen Instrumente verzauberten mich. Ich konnte tatsächlich die Hörner, das Rauschen der Trommeln, die tiefklingenden Bratschen und die Geigen, die in exquisitem Einklang sangen, unterscheiden – wie die liebliche Sprache der Geige floß und über die tiefsten Töne der anderen Instrumente pflügte.
Als die menschlichen Stimmen aufsprangen, erregt von der Woge der Harmonie, erkannte ich sie sofort als ekstatischere, sich nach oben krümmende, schnellere und flammenartigere Stimmen, bis mein Herz fast stillstand. Die Frauenstimmen schienen eine Verkörperung all der Engelsstimmen zu sein, die in einer harmonischen Flut schöner und inspirierender Klänge rauschten. Der große Chor klopfte mit ergreifendem Innehalten und Fließen gegen meine Finger. Alle Instrumente und Stimmen zusammen brachen hervor – ein Meer von himmlischen Schwingungen – und starben wie Winde, wenn das Atom verbraucht ist, und endeten in einem zarten Schauer von süßen Noten.
Natürlich war das kein Hören, aber ich weiß, daß die Töne und Harmonien, die mir vermittelt wurden, eine große Schönheit und Erhabenheit bewegten. Ich spürte auch, oder glaubte es zu spüren, die zarten Klänge der Natur, die in meine Hand sangen – das Schwingen von Schilf und Wind und das Murmeln von Bächen. Noch nie zuvor war ich von einer Vielzahl von Tonschwingungen so hingerissen.
Während ich mit Dunkelheit und Melodie, Schatten und Klang den ganzen Raum erfüllte, konnte ich nicht umhin, mich daran zu erinnern, daß der große Komponist, der eine solche Flut von Süße in die Welt ergoß, taub war wie ich selbst. Ich staunte über die Kraft seines unbändigen Geistes, mit der er aus seinem Schmerz eine solche Freude für andere brachte – und da saß ich und fühlte mit meiner Hand die großartige Symphonie, die sich wie ein Meer an den stillen Ufern seiner und meiner Seele brach.“
Nun, warum konnte sie Beethovens 9. Symphonie hören, obwohl sie taub und auch blind war? Und doch konnte sie sich etwas vorstellen. Sie sagt selbst, sie habe zwei Töne unterscheiden können.
Ich glaube, sie selbst sagt in ihrem eigenen Brief: „Wie die liebliche Sprache der Geige floß und über die tiefsten Töne der anderen Instrumente pflügte.“ Deutlich konnte sie höhere und tiefere Töne erkennen. Sie kann sogar menschliche Stimmen erkennen. Das ist jemand, der keine Ahnung hat, wie eine menschliche Stimme, geschweige denn eine singende menschliche Stimme, überhaupt klingen würde. Dennoch war sie in der Lage zu unterscheiden, wie eine menschliche Stimme klingt, im Gegensatz dazu, wie eine Instrumentalstimme klingt. Was sagt das also über die menschliche Stimme aus? Und was sagt das über Instrumente aus?
Und was sagt das über das Zuhören aus? Die Sinne hindern uns tatsächlich daran, wirklich zu verstehen, worauf Beethoven mit seiner 9. Symphonie und seinen anderen Kompositionen hinaus will. Worauf will Beethoven mit seiner 9. Symphonie und seinen anderen Kompositionen hinaus? Was versucht Beethoven wirklich zu vermitteln? Beethoven sagte: „Musik ist eine höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie.“ Und er sagte auch: „Übe nicht allein die Kunst, sondern dringe auch in ihr Inneres; sie verdient es, denn nur die Kunst und die Wissenschaft erhöhen den Menschen bis zur Gottheit.“ Welche Geheimnisse konnte Beethoven durch seine Musik entschlüsseln, und warum liegen sie in dem, was man nicht hören kann?
Vielleicht steckt etwas hinter den Noten; etwas Unbenennbares. Eine unbenennbare Welt, die zwischen den Noten, über den Noten, unter den Noten existiert. Das ist etwas, das Helen Keller verstanden hat, denn am Anfang ihres Briefes sagt sie: „Ich will damit nicht sagen, daß ich die Musik in dem Sinne gehört habe, wie andere Menschen sie gehört haben. Und ich weiß nicht, ob ich Ihnen verständlich machen kann, wie es mir möglich war, Freude an der Sinfonie zu haben.“ Weil sie Dinge hören und sehen kann, wie wir sie nicht sehen können, weil unsere eigenen Sinne uns im Stich lassen.
Resolution zum Beethoven-Jahr
In einer Gegenwart, in der zunehmend sinnlose Gewalt, ein Verfall der kulturellen Werte, eine kaum noch zu überbietende Verflachung beim sogenannten volkstümlichen Geschmack und eine Verrohung des Umgangs miteinander zu beobachten sind, haben wir immer noch eine ganz entscheidende Quelle, von der eine kulturelle und moralische Erneuerung ausgehen kann: die klassische Kunst! Das großartige Menschenbild, das mit den dichterischen Werken von Dante, Petrarca, Lessing oder Schiller oder den erhabenen und großen Kompositionen von Bach, Mozart, Verdi, Beethoven, Schubert, Schumann oder Brahms verbunden ist, ist immer noch ein Bezugspunkt für die Art und Weise, wie wir uns als Gesellschaft definieren.