Von Odile Mojon
Am 7. Mai 1824, vor 196 Jahren, dirigierte Ludwig van Beethoven persönlich die Uraufführung seiner 9. Symphonie im ausverkauften Saal des Theaters am Kärntnertor in Wien. Dies ist die berühmte Episode, wo der Komponist mit dem Rücken zum Publikum stehend seine Musik dirigiert, völlig taub und die Augen geschlossen, während er innerlich seiner Musik folgt, und er den Takt weiter schlägt, während das Orchester für einige Sekunden aufhört. Er hört nichts von der wahnsinnigen Begeisterung, die das Publikum ergriffen hatte, bevor die Solosopranistin ihn veranlaßt, sich umzudrehen…
Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag aus dem Jahr 2014 im Rahmen einer Kaderschule von Solidarité et Progrès. Die Absicht war, eine Parallele zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Kreativität zu ziehen und aufzuzeigen, daß beide aus derselben Quelle schöpfen.
Warum sollte man Beethoven studieren in einer schwierigen Zeit, in der unsere Mitbürger viele andere Sorgen haben? Nun, weil Beethoven zweifellos der revolutionärste Komponist überhaupt war, nicht nur als Zeitgenosse, der sich sehr mit der Amerikanischen und Französischen Revolution der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts befaßte, sondern weil er einer der wenigen war, die das Gespür dafür hatten, wie man die Kreativität der Bevölkerung berührt und weckt, damit (frei nach Schiller) „ein großer Moment in der Geschichte kein kleines Geschlecht findet“.
Sein 250. Geburtstag, den wir 2020 feiern, bietet uns eine hervorragende Gelegenheit, auf die Quelle seines Denkens zurückzugreifen. Und da der große Ludwig am 16. Dezember 1770 geboren wurde, wünschen wir ihm zu seinem Geburtstag, daß seine Arbeit auch eine Quelle der Inspiration für alle sein möge, die nicht mehr den Kotau vor einer kriminellen Finanzoligarchie machen wollen.
I. Ouvertüre
Geige spielen, der Phantasie freien Lauf lassen und … die Relativitätstheorie entdecken, ist das wirklich ernst gemeint? Für Albert Einstein, einen großen Bewunderer von Mozart und Bach, einen Amateurgeiger, der gerne auf seinem Instrument oder am Klavier improvisierte, lautete die Antwort ja! Er schätzte besonders Mozart und Bach, deren Werke seine Phantasie tief durchdrangen und beflügelten; es gab eine Affinität zwischen dieser Musik und seinem eigenen Denken.
Walter Isaacson, einer der Biographen Einsteins, beschreibt dessen Beziehung zur Musik: „,Musik ist mehr als nur Unterhaltung. Im Gegenteil, sie half ihm beim Nachdenken. Wenn er sich in einer Sackgasse fühlte oder mit Schwierigkeiten bei seiner Arbeit konfrontiert war, flüchtete er sich in Musik, die normalerweise alle seine Schwierigkeiten löste’, sagte sein Sohn Hans Albert. ,Er spielte oft spät abends in der Küche Geige, improvisierte und dachte gleichzeitig über komplexe Probleme nach. Dann, plötzlich, während er spielte, rief er aufgeregt aus: Ich habe es gefunden!’ Als ob die Antwort auf das Problem durch Inspiration mitten in der Musik zu ihm gekommen wäre.’“
Dank seiner Mutter war Einstein von frühester Kindheit an von klassischer Musik umgeben. Aber es ist nicht nur Beethovens Pathétique, bei der er in Verzückung geriet, sondern auch Schiller, Heine, Goethe, Shakespeare… Es sind in der Tat die bedeutendsten Künstler, die den kleinen Albert in die Welt des Denkens einführen und ihn leiten. Für ihn existiert die Trennung zwischen Musik und Wissenschaft ebensowenig, wie sie vor dem Auftreten der Irrationalität der romantischen Bewegung und der Einführung einer ebenso künstlichen wie katastrophalen Trennung zwischen den Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften existiert hatte.
Es dauerte mehr als zwei Jahrhunderte, bis wir uns das alles noch einmal angesehen haben, erst vor kurzem begann eine neue Begeisterung für klassische Musik, und ihre „Interdisziplinarität“ mit den Naturwissenschaften war Gegenstand zahlreicher Studien und löste dank verschiedener Initiativen Bemühungen aus, die Bildung zu überdenken. Ohne zu wissen, wie man es beweist, können wir heute mehr oder weniger erkennen, daß Wissenschaft und Kunst dasselbe universelle Prinzip der Kreativität gemeinsam haben, auch wenn noch nicht zugegeben wird, daß das schöpferische Denken (und das von Einstein im besonderen) sich nur außerhalb einer mathematischen Formalisierung oder eines logisch-deduktiven Ansatzes des kartesischen Typs entwickeln kann.
Einsteins Antworten auf die Fragen eines Journalisten nach dem Gang seiner Entdeckungen zeigen viel mehr die Muse eines Dichters als die kalte Rationalität eines Wissenschaftlers: 1
G. S. Viereck: „Wenn wir der Erfahrung anderer so wenig verdanken, wie erklären Sie plötzliche Sprünge im Bereich der Wissenschaft? Sind Ihre eigenen Entdeckungen auf Intuition oder Inspiration zurückzuführen?“
A. Einstein: „Ich glaube, auf Intuition und Inspiration, und ich habe manchmal den Eindruck, daß ich damit Recht habe. Ich weiß es nicht. Als zwei von der [britischen] Royal Academy finanzierte wissenschaftliche Untersuchungen meine Relativitätstheorie überprüften, war ich überzeugt, daß ihre Schlußfolgerungen meiner Hypothese entsprechen würden. Ich war nicht überrascht, als die Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919 meine Intuitionen bestätigte. Ich wäre überrascht gewesen, wenn ich mich geirrt hätte.“
Viereck: „Also vertrauen Sie Ihrer Phantasie mehr als Ihrem Wissen?“
Einstein: „Ich bin Künstler genug, um mich frei auf meine Vorstellungskraft verlassen zu können. Phantasie ist wichtiger als Wissen. Das Wissen ist begrenzt. Die Vorstellungskraft umfaßt die ganze Welt.“
Auch wenn er überzeugt ist, daß Intuition und Vorstellungskraft im Zentrum der Forschung des wahren Wissenschaftlers stehen – daß sie ihn katalysieren –, ist das für Einstein keine Formel – sie müssen von Leidenschaft, Gründlichkeit und hartnäckiger Arbeit getragen werden.
„Sie sehen, am Ende reift sogar die Arbeit eines belesenen Forschers im Bereich der Vorstellungskraft. Wenn ich zurückdenke, wie es zu meinen Entdeckungen kam und wie sie verwirklicht wurden! Wir stoßen Hunderte Male auf eine Wand, wir versuchen, uns festzuhalten – etwas zu definieren, was eine diffuse Empfindung ist, die uns vorschwebt –, um zu versuchen, es in ein System zu bringen, kurz gesagt, um den höchsten Gipfel zu erreichen. Vergeblich. Und dann, ein anderes Mal, vielleicht wie ein Blitz: der Gedankenblitz, der die Lösung liefert – und dann beginnt die unendlich anstrengende Arbeit des Aufbaus und der Entwicklung des Systems. Was mit einem Künstler passiert, ist nicht anders. Konzentration, harte Arbeit, jahrelange Ausdauer erschaffen das Werk. Das ist die notwendige Gemütsverfassung. Weil einfache Intuition nicht ausreicht. Die künstlerische Vorahnung spielt eine Rolle, die in meinem Leben nicht ohne Bedeutung ist… Wenn ich nicht Physiker wäre, wäre ich wahrscheinlich Musiker. Ich denke oft in Musik. Ich sehe mein Leben in Musik.“
Man ist jedoch überrascht, unter den Komponisten, denen Einstein unendliche Bewunderung entgegenbringt, Beethoven nicht zu finden, man ist sogar fassungslos, welch geringe Anziehungskraft er auf ihn ausübt. Hatte er nicht gesagt: „Ich denke, er ist zu persönlich… fast nackt… Ich fühle mich unwohl, wenn ich Beethoven höre, geben Sie mir lieber Bach und noch mehr Bach…“ Hier sind wir weit entfernt von seiner Begeisterung für Mozart, dessen Musik er als „so rein“ ansah, „daß sie seit jeher im Universum existiert zu haben schien und nur darauf wartete, vom Meister entdeckt zu werden“.
In seinem Buch Where is Science Going? (Wohin geht die Wissenschaft?) hängt der Physiker Max Planck2 dem letzten Kapitel „Epilog, ein sokratischer Dialog“ die Antworten an, die er und Einstein auf Fragen des Journalisten James Murphy gegeben hatten. In einer Passage über die Kausalität entwickelt Einstein den folgenden Punkt:
„Unser Konzept hier beschränkt sich auf eines, das innerhalb eines Zeitabschnitts auftritt. Es ist vom Gesamtprozeß abgetrennt. Unsere derzeitige, ungefähre Anwendung des Kausalitätsprinzips ist sehr oberflächlich. Wir sind wie ein Kind, das ein Gedicht nach Reim beurteilt und nichts über die rhythmische Struktur weiß. Oder wir sind wie ein junger Anfänger am Klavier, der sich damit begnügt, eine Note mit der vorherigen oder der nächsten zu verknüpfen. Bis zu einem gewissen Grad kann das sehr gut funktionieren, solange wir uns auf sehr einfache oder primitive Kompositionen beschränken. Für die Interpretation einer Bachschen Fuge reicht das aber nicht aus. Die Quantenphysik konfrontiert uns mit sehr komplexen Problemen, und um sie zu lösen, müssen wir unser Konzept der Kausalität erweitern und verfeinern.“
Daß plötzlich vor Einsteins geistigem Auge eine Bachsche Fuge entsteht, um sich das Niveau zu veranschaulichen, das für das Begreifen der Kausalitätsprinzipien einer neuen Physik erforderlich ist, ist ebenso bemerkenswert wie treffend. Die Fuge, eine Musikform, die Johann Sebastian Bach zu höchster Vollendung entwickelte, stellt mit ihren Überkreuzungen der Stimmen, die einander auf diese Weise nach kunstvollen Prinzipien der Imitation antworten, tatsächlich eine dynamische und komplexe Architektur dar.
Die Art und Weise, wie Beethoven, ebenso wie Mozart, diese nach Bachs Tod aus der Mode gekommene musikalische Form wieder aufgreift, ihren polyphonischen Reichtum und ihre transformatorische Kraft benutzt und ihr eine einzigartige dramatische Funktion zuschreibt, ist ein wesentliches Element, das ihm erlaubte, seine Musik in eine neue Dimension voranzutreiben, die bis zum heutigen Zeitpunkt nie wieder erreicht worden ist. Die schöpferische Intuition Beethovens verbindet sich so, durch Vorwegnahme, mit der Intuition Einsteins bei seinen Fragen zur Kausalität.
Hat Einstein jemals die Klaviersonate Opus 110 oder Beethovens Große Fuge gehört, Werke, die in der Diskussion, auf die sich Max Planck bezieht, ein Echo gehabt haben müssen? Sollte es unmöglich sein, das zu beweisen, so kann man dennoch so gut wie sicher sein, daß er die Neunte kannte, egal ob er sie schätzte oder nicht.
Jenseits ihrer Unähnlichkeiten teilten Einstein und Beethoven einige gemeinsame Züge. Dazu gehörten Hartnäckigkeit und die Ablehnung jeglichen Kompromisses, wenn es um den Bereich des Schöpferischen ging. Beides sind Charakteristiken, die die Ausarbeitung der Neunten Symphonie und ganz besonders ihres Finales leiteten. Seine Untersuchung wird uns erlauben, die historischen und internen Kausalzusammenhänge zu verstehen, die es ordnen und ihm Leben geben.
II. 1792-1824: Von der Ode zur Hymne an die Freude3
1792 erhielt Charlotte, die Frau des großen deutschen Dichters Friedrich Schiller (1759-1805), einen Brief von Bartholomäus Fischenich, einem Freund des Paares. Fischenich, Rechtsprofessor an der Universität Jena, erzählte ihr, daß er sich mit einem vielversprechenden jungen Musiker angefreundet habe, der ihm eine seiner Kompositionen gezeigt habe. Der 22jährige Musiker hieß Ludwig van Beethoven (1770-1827) und hatte ihm ein Projekt eröffnet, das ihm am Herzen lag: die Ode an die Freude, eines der berühmtesten Gedichte von Friedrich Schiller, in Musik zu setzen. Das war die erste Erwähnung einer embryonalen Idee, die er mehr als die Hälfte seines Lebens weiterverfolgen sollte, dieser junge Mann, der nicht nur ein großer Bewunderer des Dichters war, sondern dessen Ideen bereits gut kannte.
Beethoven wurde 1770 in Bonn geboren, wo er Kindheit und Jugendzeit verbrachte, bevor er sich 1792 endgültig in Wien niederließ. Seine Eltern waren mit Gustav F.W. Großmann befreundet, dem Direktor des Stadttheaters, dessen musikalische Leitung Beethovens Lehrer Christian G. Neefe innehatte. Beethoven selbst übernahm dort die Rolle des Repetitors. Bereits 1783 wurden zwei von Schillers frühen Werken, darunter das äußerst beliebte Stück Die Räuber, von Großmann auf den Spielplan gesetzt, das andere war Die Verschwörung des Fiesco zu Genua.
Beethovens Interesse an der Ode an die Freude war alles andere als oberflächlich, doch sie stellte eine enorme Herausforderung an die musikalische Sprache dar. Wie war der „Wesensgehalt“ von Schillers Gedicht, so wie er es fühlte und konzipierte, in bestehende musikalische Formen zu übertragen? Auch wenn Beethoven schnell beweisen sollte, daß er wie Bach und Mozart vor ihm imstande war, etwas zu vermitteln, was Worte nicht vermögen, führte ihn Schillers hoch philosophisches und politisches Gedicht in eine ganz neue Dimension der Gesangskunst.
Zumal dieses Gedicht eines der berühmtesten des Dichters war. Es hatte wahre Begeisterung geweckt, als Schiller, der bereits einen sehr guten Ruf hatte, es 1785 verfaßte, und Beethoven mußte sich, seinem Charakter entsprechend, von ganzem Herzen mit dem Mann verbunden fühlen, der in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen schreiben sollte, daß „das vollkommenste aller Kunstwerke… der Bau einer wahren politischen Freiheit ist“.
Ja, Beethoven hatte in der Ode an die Freude einen neuen Geist eingefangen, eine prometheische Flamme, die seine Vorstellung von der Welt widerspiegelte, und die späteren Überarbeitungen, die Schiller vornahm, brachten ihn nicht von diesem Projekt ab. Er übernahm Schillers neue Version und fügte sogar bestimmte Modifikationen hinzu – Schnitte, Umkehrung der Reihenfolge der Strophen –, hervorgerufen teilweise paradoxerweise durch seine Bewunderung für den Dichter sowie durch seine Überzeugung, daß der Musiker über das Gedicht hinausgehen müsse. Eines Tages vertraute er dem Komponisten und Pianisten Carl Czerny an: „Schillers Dichtungen sind für die Musik äußerst schwierig. Der Tonsetzer muß sich weit über den Dichter zu erheben wissen. Wer kann das bei Schiller? Da ist Goethe viel leichter!“
Das Nachdenken über die Wechselwirkung zwischen zwei Formen des künstlerischen Ausdrucks, Poesie und Musik, die einander ergänzen, gleichzeitig jedoch auch im Gegensatz zueinander stehen, war alles andere als einfach. Für Beethoven war die Sache klar: die größte Verantwortung fällt dem Musiker zu; im Gegensatz dazu durfte für Johann Wolfgang von Goethe, den großen Dichter, der bis dahin die Welt der deutschen Poesie beherrscht hatte, die Musik nur Handlanger der Poesie sein (insbesondere seiner eigenen). Franz Schuberts Vertonungen seiner Gedichte lehnte Goethe mit der Begründung ab, die Dichtung sei zum Handlanger der Musik herabgewürdigt worden, und als der ihm einige zuschickte, ließ er sich noch nicht einmal zu einer Antwort herab.
Für Beethoven, und das ist keineswegs ein Paradox, weist alles darauf hin, daß er sich nicht darauf beschränken wollte, dieses symbolträchtige Werk Schillers zu „vertonen“. Der Gesamtplan der Symphonie ist ein Hinweis darauf, wie auch seine Art und Weise, Singstimmen und Instrumentalstimmen gleichberechtigt zu behandeln. Aus der poetischen Kraft des Textes zog Beethoven seine Inspiration, doch erst die dramatische Dimension der in das Orchester integrierten menschlichen Stimmen erlaubte es ihm, als Wesentlichstes daraus den Reichtum eines seitdem nie wieder erreichten Kontrapunktes zu entwickeln.
Eine geduldige Entwicklung des Themas
Angesichts der Herausforderung, die er sich gestellt hatte, schien Beethoven schon sehr früh etwas im Sinn zu haben, dessen Realisierung jedoch nicht vollständig seinen Vorstellungen entsprach. Also mußte er jahrelang forschen, vertiefen, experimentieren und wurde oftmals unterbrochen.
Die erste Spur des späteren Themas der Hymne an die Freude erschien 1795 in dem Lied Seufzer eines Ungeliebten und Gegenliebe. Das 1775 von Mozart komponierte Misericordias Domini (KV 222) scheint ebenfalls eine Inspirationsquelle gewesen zu sein, wie ein flüchtiges Auftauchen des Themas nahelegt.
Die Arbeit geht über die Jahre weiter, und als die Öffentlichkeit 1805 Leonore – die erste Fassung von Beethovens einzigartiger Oper Fidelio – entdeckt, kann sie im letzten Duett zwischen Leonore und Florestan problemlos einen Vers – Wer ein holdes Weib errungen – aus der Ode an die Freude sowie weitere „Schillersche“ Wendungen und Sätze identifizieren.
Die Umrisse des Themas erkennen wir auch in dem Lied Mit einem gemalten Band (op. 83, Nr. 3), komponiert 1810. Es kommt wieder zu einer längeren Unterbrechung, und 1818 finden wir das Thema in dem Schmelztiegel, in dem die berühmte Chorfantasie op. 80 (für Klavier, Chor und Orchester) entsteht, eine Art Probelauf, der die Artikulation eines Gesangsteils in einem Instrumentalwerk untersucht.
Schließlich erschien das Thema 1822 in einem Skizzenbuch Beethovens in seiner endgültigen Form mit den Worten der Ode an die Freude. Heutzutage mag die lange Entstehungszeit für dieses Thema – so „einfach und populär, daß es schon immer existiert zu haben scheint“ – unverständlich sein, aber es war notwendig, die in seinen musikalischen „Genen“ zum Ausdruck gebrachten Ideale entsprechend Schillers Gedicht zu fassen: Freude, aber ohne Banalität; Brüderlichkeit ohne Sentimentalität; die Suche nach Glück ohne Demagogie – als gemeinsamer Nenner der Menschheit.
Die Hymne an die Freude, als welche der vierte Satz der 9. Symphonie allgemein bekannt ist, ist auch insofern ein politisches Manifest, als sie – durch die Erfahrung von Schönheit – ein Engagement spürbar macht, was eine entwickeltere, gerechtere und menschlichere Gesellschaft sein sollte.
Schönheit oder eine bestimmte Vorstellung von Politik
Als bei Beethoven die Idee aufkam, Schillers Gedicht zu vertonen, befanden wir uns mitten in der Französischen Revolution. Sie verursachte ein wahres Erdbeben in Europa, und Beethoven verfolgte wie Deutschlands Jugend und Intellektuelle insgesamt die Ereignisse in Frankreich genau. Es war endlich an der Zeit, der verhaßten tyrannischen und oligarchischen Ordnung, die nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa herrschte, ein Ende zu setzen. Ihre Erschütterung durch die Offensive der Französischen Revolution von 1789 hatte bereits 1776 mit der Amerikanischen Revolution begonnen, die faktisch das Britische Empire besiegte und die erste moderne Republik gründete.
Doch diese Infragestellung des alten Regimes und der Kampf für die Entstehung souveräner Republiken wurden nicht nur auf den Schlachtfeldern mit Kanonen geführt, sondern auch in den Köpfen und Herzen der Menschen.
Der enorme Erfolg von Schillers Stücken (Die Räuber 1781, Die Verschwörung des Fiesco zu Genua 1782 und Don Carlos 1787) hatte die Herzen für revolutionäre Ideale geöffnet. Wenn auch Deutschland keine Revolution erlebte, als es unter der napoleonischen Besatzung litt, so gab es doch eine Generation, von der es hieß, sie trage stets eine Sammlung von Schillers Gedichten bei sich, als sie sich in den Befreiungskriegen mobilisierte.
Seine feurigen Verse gegen Tyrannei und Unrecht, der Wunsch, seine Mitbürger mit Poesie und Drama ihrem Untertanendasein zu entreißen, sie über ihre kleine engstirnige Welt zu erheben, um sie ihrer Menschenwürde zuzuführen, hatte ihn als Dichter der Freiheit bekannt gemacht, dessen Ruhm schnell über die Grenzen drang. Natürlich konnten seine Ideale eine Übereinstimmung mit jenen der Französischen Revolution finden, und so beschloß die französische Nationalversammlung im August 1792, ihm zum Ehrenbürger Frankreichs zu ernennen. Die Launen der Geschichte ließen ihn diese Urkunde jedoch erst 1798 erhalten, und wir wissen, daß er diese Ehre mit ziemlich zwiespältigen Gefühlen aufnahm, hatte er doch das Abgleiten der Revolution in den jakobinischen „Terreur“ mit Entsetzen und Bestürzung verfolgt.
Vor diesem Hintergrund ist es undenkbar, daß für Beethoven, der ein eifriger täglicher Zeitungsleser war, die politische Situation bei der Komposition der Neunten Symphonie und ihrem Finale keine Rolle gespielt hätte. In diesem Sinne war er kein einfacher Musiker mehr, der dieses oder jenes Umfeld widerspiegelte, sondern ein Darsteller, der seine Rolle spielte und entschlossen war, mit seiner Kunst Verantwortung zu übernehmen und in das Weltgeschehen einzugreifen.
III. Die Lösung bahnt sich an
Die Mauer, auf die Beethoven stieß, war nicht weniger hoch als die, von der Einstein in seinem Interview mit dem Journalisten James Murphy sprach: „Wir stoßen Hunderte Male auf eine Wand, wir versuchen, uns festzuhalten – etwas zu definieren, was eine diffuse Empfindung ist, die uns vorschwebt –, um zu versuchen, es in ein System zu bringen, kurz gesagt, um den höchsten Gipfel zu erreichen.“
Die wissenschaftliche Strenge, mit der Beethoven komponierte, verbot ihm musikalische Ungenauigkeiten, Abkürzungen oder „halbe Sachen“. Die Idee, das Gedicht in eine instrumentale Form, die Symphonie, einzufügen, scheint jedoch erst 1807 konkrete Form angenommen zu haben. Die Herausforderung war immens, da die Symphonie eine musikalische Form war, die ausschließlich für ein Instrumentalensemble bestimmt war, organisiert in vier unterschiedlichen Sätzen mit verschiedenen Tempi und verschiedenartigem Charakter.
Es galt, die menschlichen Stimmen in diese Struktur einzufügen, und zwar so, daß alles von der ersten bis zur letzten Note eine organische Einheit bildet, ohne es zu entstellen oder in Flickwerk zu verwandeln. Das war etwas bis dahin noch nie dagewesenes, Vokalmusik war bisher fast ausschließlich mit Religion oder Oper verbunden gewesen. Einige von Beethovens Freunden kritisierten ihn denn auch wegen seiner Kühnheit und schlugen trotz des immensen Erfolgs der Arbeit sogar vor, daß er ein anderes, rein instrumentales Finale schreiben möge.
Die Idee, einen gesungenen Teil in eine Symphonie aufzunehmen, war für Beethoven nicht neu, schon 1807 hatte er vorübergehend erwogen, ein Dankeslied in das Finale der Symphonie Nr. 6, genannt Pastorale, aufzunehmen, eine Idee, die er aufgab. Eine Notiz auf der Rückseite einer Skizze der Sonate opus 106 aus dem Jahr 1818 zeigt, daß er sich noch nicht festgelegt hatte und verschiedene Optionen in Betracht zog: „… im adagio text griechischer Mithos Cantique Eclesiastique / im Allegro Feyer des Bachus.“ 1822 sprach er erneut von einem bereits zehn Jahre zuvor erwähnten Projekt, nach der 8. Symphonie zwei weitere zu schreiben, von denen eine mit einem Chorgesang enden sollte, ohne daß die „Hymne an die Freude“ erwähnt wurde.
Erst 1823, nach langem Zögern, als er in der Komposition der Symphonie schon weit fortgeschritten war und bereits ein Thema für den letzten Satz5 gefunden hatte, beschloß er, es durch die „Hymne an die Freude“ zu ersetzen.
Wir werden uns hier auf diesen Teil konzentrieren, der alleine bereits von außergewöhnlicher Dauer ist (er entspricht der gesamten 8. Symphonie) und als Meisterwerk im Meisterwerk gilt.
1) Der Schlußstein zum Gewölbe der Kathedrale: Presto, Allegro Assai
Beethoven hatte bereits die klassische Form der Symphonie verändert, als er die Anordnung der beiden Mittelsätze vertauschte, indem er das Adagio (den langsamen Satz) an die dritte und davor das Scherzo an die zweite Stelle setzte. Der vierte Satz bricht endgültig mit allen damaligen Gewohnheiten, mit seinen vier großen, sehr differenzierten Abschnitten, die eine Symphonie in der Symphonie bilden.
Beethoven scheint sich anfangs einer Improvisation hinzugeben, indem er sich in ein Chaos von Klängen „stürzt“, dissonant, turbulent, das jede Möglichkeit der Intervention menschlicher Stimmen ausschließt. Wie kann man die Singstimmen in einem solchen Kontext legitim einführen, ohne die in den ersten drei Sätzen angesammelte Kraft ohne Willkür zu brechen?
Beethoven tut das Undenkbare, er gibt den Instrumenten eine „menschliche“ Stimme. Nach einem plötzlichen Halt beginnt nämlich ein überraschendes instrumentales Rezitativ, bei dem Kontrabässe und Celli unisono spielen. Die Wahl des Cellos, das bekanntermaßen der menschlichen Stimme am nächsten kommt, unterstreicht Beethovens Absicht und Kühnheit in Verbindung mit einer dem Gesang vorbehaltenen musikalischen Form – dem Rezitativ. Die Funktion eines Rezitativs besteht darin, die Handlung zu kommentieren oder durch halb gesprochenen Text voranzutreiben, was nicht frei von dem Risiko ist, die musikalische Kontinuität zu unterbrechen. Daher ist in der Tradition der Ansatz verankert, daß die Deklamation der „musikalischen“ Linie des Textes folgt und den natürlichen Tonfall des gesprochenen Satzes respektiert, während sie von der Begleitung eines Cembalos oder des Orchesters gestützt wird.
Was soll an dieser Stelle das „sprachlose“, seiner gewöhnlichen Rolle entfremdete Rezitativ bedeuten, das den Instrumentalisten seiner Zeit derart unglaubhaft vorkam, daß sie Beethoven ohne Erfolg bestürmten, Worte hinzuzufügen?
Diese Passage (kaum drei Minuten lang, bei einer Gesamtlänge der Neunten von mehr als einer Stunde), deren Rolle darauf begrenzt zu sein scheint, als Übergang zum gesungenen Teil zu dienen, ist wie der Schlußstein des gesamten Gewölbes konzipiert.
Sie präsentiert sich wie ein Dialog zwischen dem Rezitativ der tiefen Streicher und den vom Gesamtorchester gegebenen Antworten. Jede von den Kontrabässen und Celli gesungene Phrase ist eine Frage, auf die das Orchester jedes Mal mit einigen Takten aus einem der drei ersten Sätze antwortet.
Nach einer die „chaotische“ Einführung wieder aufnehmenden ersten Antwort, gefolgt von einer neuen „Frage“ im Rezitativ, antwortet das Orchester mit der Zitierung des ersten Satzes. Eine dritte Frage der Celli und Bässe führt zu einer Zitierung des zweiten Satzes etc.,6 aber die Antworten befriedigen die tiefen Streicher offenbar nicht, die ihre Fragen bald drängend, bald tief betrübt wieder aufnehmen. Eine starke Spannung entwickelt sich: Was ist los? Wozu dieser Dialog, der aufhorchen läßt und beunruhigt? Die so sehnlich erwartete Auflösung bringen schließlich die Holzbläser (Fagotte, Klarinetten, Oboen), die ein befreiendes Thema anstimmen: die Hymne an die Freude.
Ja, genau das war es! Wie ein Wissenschaftler, der eine Hypothese an der Erfahrung überprüft, benutzt Beethoven die legitimsten musikalischen Hypothesen (die Themen früherer Sätze) und schafft so die organische Einheit, die seine musikalische Kathedrale standfest macht. Das kommende Thema muß die anderen, die nicht ausreichen, um Schillers Gedicht zu tragen, an Schönheit übertreffen. Und es ist Beethoven selbst, der das sagt.
Zweifeln Sie daran? In seinem Skizzenbuch, in dem er die musikalischen Ideen notierte, die ihm in den Sinn kamen, hatte Beethoven Hinweise hinzugefügt, die sich bald auf das Rezitativ, bald auf die Themen anderer Sätze bezogen. Zum ersten von ihnen notiert er: „Nein dieses würde unß erinnern an unsern Verzweifl“, dann für das zweite: „Nein, auch dieses nicht, etwas anderes gefällig ist es was ich fordere“; zum dritten: „Auch dieses, es ist zu zärtl, zu zärtl, etwas Aufgewecktes muß man suchen.“ Schließlich neben die Hymne an die Freude: „Dieses ist es, Ha es ist nun gefunden, ich selbst werde vorsingen.“
„Heureka“ (altgr. „Ich habe es gefunden“), rief Archimedes aus. Ruft Beethoven etwas anderes, wenn er das Thema der Hymne an die Freude einführt, diese Melodie „von erhabener Frische und Einfallsreichtum“?7 Hier ist sie also, in ihrer Schönheit und „Naivität“, diese Melodie, die so einfach und universell ist, daß jeder sie singen kann, diese Melodie, die einem Gehörlosen seit fast zehn Jahren so viel Arbeit bereitet hatte!
Und nachdem Beethoven uns laut seinem Skizzenbuch versprochen hat, es selbst anzustimmen, tut er es erneut in seiner Instrumentalstimme – den Celli/Kontrabässen.
Sie beginnen ein sechstes Rezitativ auf einem völlig neuen Ton, bejahend und zum ersten Mal hervorgehoben durch kraftvolle Bläserakkorde, die klingen, als wollten sie ein großartiges Ereignis ankündigen. Ja, es gibt ein großes Ereignis, eine Befreiung, eine Geburt, die Hymne an die Freude, deren Erscheinen die früheren Unsicherheiten und Konflikte löst.
Dieses Mal wird das Orchester keine Antwort geben. Die Zeit des Fragens hat ein Ende mit der Ankunft des Themas der Hymne an die Freude, und es sind die tiefen Streicher (stellvertretend für Beethoven), die es zuerst singen, unisono, allein, sachlich im Kopf eines Menschen, der gerade eine Entdeckung gemacht hat und sie mit einer Mischung aus Schüchternheit und ungläubigem Staunen betrachtet. Und man kann sich vorstellen, beim Hören dieser Melodie,8 die sich eng anlehnt an die Versmetrik eines Gedichts, das damals alle Deutschen auswendig kannten, wie sehr ein Publikum, das mit der Schillerschen Poesie vertraut war und sie liebte, ergriffen und wie elektrifiziert sein mußte, wenn es sie auf diese Weise verwandelt wiederentdeckte.
Beethoven macht sich nun daran, sein Neugeborenes zu „sozialisieren“, indem er es mit anderen Instrumenten umgibt, die ihn durch vier Variationen führen, mit einem sich entwickelnden Charakter von kindlicher Zärtlichkeit bis zur Blüte des Erwachsenenalters. So greift die erste Variation, die immer noch von den tiefen Streichern gesungen wird, denen sich die Bratschen zugesellen, das Thema auf, begleitet durch die zarte und geheimnisvolle Gegenstimme des Fagotts, dem einzigen Blasinstrument, das eingreift. Die zweite Variation behält dieselbe Konfiguration bei, erweitert sie jedoch um die Violinen I und II,9 was die Schaffung eines polyphonen Raumes erlaubt, der den Horizont erweitert, an Stärke gewinnt und sich dann unabhängig macht, bevor sie in die nächste, „erobernde“ Variation voller jugendlicher Frische mündet. Schließlich erhebt sich das Thema, nun mit dem vollen Orchester, in einer brillanten Variation jubelnden Charakters zu unerwarteter Größe.
2) Presto, allegro assai höherer Ordnung
Tatsächlich sind wir damit wieder in das Klangchaos des Anfangs getaucht10 (mit der gleichen Angabe für den Vortrag: Presto, Allegro Assai), das uns mit den lebendigen Harmonien einer menschlichen Stimme so unvereinbar erschien. Wieder führt ein plötzlicher Halt ein Rezitativ ein, aber – Überraschung! – diesmal wird es einem „echten“ Sänger anvertraut!
Was bis dahin als unmöglich und willkürlich galt – menschliche Stimmen in eine Symphonie einzubeziehen, und dies, ohne die Einheit des Werkes zu zerstören – erscheint nun legitim nach diesem vorbereitenden Werdegang, wo nichts zum Ausdruck gebracht wird, was nicht zuvor experimentell für gültig erklärt worden war. Wenn für Beethoven Musik vom Herzen ausgeht und zum Herzen spricht, ist er dennoch authentisch Künstler und kann nicht ignorieren, daß Kunst eine Bestätigung des Geistes erfordert; was hinter dieser überraschenden Entwicklung steht, erwächst somit in Wirklichkeit aus der notwendigen Verständlichkeit, die Beethoven seiner Arbeit verleihen will.
Unnütze Hypothesen? Hören wir einmal, was diese menschliche Stimme sagt, als sie die einzigen Worte spricht, die Beethoven sich erlaubte, Schillers Gedicht hinzuzufügen: „O Freunde, nicht diese Töne! Sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere.“
Das bestätigt, was die von Beethoven in seinen Skizzenbüchern vermerkten Hinweise nahelegten: Keines der Themen der „alten Welt“ (die ersten drei Sätze) genügt als Fundament für die Ode an die Freude. Nur eine neue musikalische Welt ist in der Lage, Schillers Gedicht zu verkünden. Und es ist symbolisch Beethoven selbst, der hier spricht, mit diesen wenigen Worten, die von seiner Hand geschrieben und hinzugefügt und dann genau wie die Rezitative im vorherigen Abschnitt dargeboten werden.
Hier wird nun der Dialog zwischen Orchester und Rezitativen auf drei knappe Wechsel reduziert, denn in diesem bis hier instrumentalen Universum muß nach diesem ersten gesungenen Eingriff die Einführung der Singstimmen – mit anderen Worten der Menschheit – auf der Bühne vorbereitet werden.
Das ist der ergreifende Moment, in dem der Bariton die Hymne an die Freude über das Wort „Freude, Freude“ singt. Dem deutschen Kunstkritiker und Dramatiker Wolfgang Griepenkerl (1810-68) zufolge war Schillers Gedicht zuvorderst eine Ode an die Freiheit und nicht an die Freude. Obwohl es keine Beweise für diese Behauptung gibt, ist es offensichtlich, daß der musikalische Wert und die Intensität, die Beethoven dem Wort „Freude“ verleiht, sowie die Art und Weise, wie es als „Keimmotiv“ für das gesamte Werk dient, nahelegt, daß er das Wort Freiheit im Sinn hatte.
Zumindest ist die Freude, die Schiller und Beethoven feiern, eng mit dieser Freiheit verbunden und spiegelt die Ideale der Französischen Revolution wider. Die Menschheit muß ihre Freiheit wiedererlangen – keine falsche, anarchistische und nihilistische Freiheit, sondern die der Freude am Schaffen –, gefürchtet von der Oligarchie, die unweigerlich versuchen wird, sie im Keim zu ersticken, um ihr eigenes Überleben zu sichern.
Die Hymne, die zunächst instrumental erklungen war, hat fortan eine gesangliche Dimension, als lebendiges Merkmal der Menschheit. Darüber hinaus hat sie die Funktion eines „Keimmotivs“, d.h., aus diesem musikalischen Element besteht das musikalische „Material“, aus dem das Werk gebildet ist.
Doch mit der hier beginnenden Szenenabfolge wird Beethoven zum Dramatiker. Die gesungene Aufführung auf der Bühne wird als abwechselnder Eintritt von Solisten, des Chores, von Gruppen von Solisten organisiert, um eine Abstufung der Intensität zu erzielen, insbesondere indem die hohen Stimmen nur sparsam und allmählich eingesetzt werden, sodaß das Erreichen der dritten Strophe („Freude trinken alle Wesen“) in einem ansteckenden Aufschäumen gipfelt, das die Zuhörer in einen reinen Rausch der Freude entführen soll.
3) Wie die Sonnen: allegro assai vivace
Diesem sprudelnden Jubel folgt eine plötzliche Stille. Ein Warten, bald unterbrochen von den unmerklichen Schlägen einer Baßtrommel, verdoppelt von Fagotten, die den Rhythmus eines Marsches, eines Türkischen Marsches, intonieren. Der Spielmannszug kommt näher; Baßtrommel, Becken und Triangel geben den Rhythmus an. Deutlich sind die Querflöten (Flöten, dann Piccoloflöten) auszumachen, die eine Variation des „Freuden-Themas“ hören lassen. Bald vermischen sich damit die Worte der vierten Strophe des Gedichts, intoniert zunächst von einem Solotenor, dem sich die Chorstimmen zugesellen. Nämlich „…durch des Himmels prächt’gen Plan, laufet, Brüder, eure Bahn, freudig, wie ein Held zum Siegen“, die 4. Strophe der Ode an die Freude, die Beethoven – stets darauf bedacht, Schillers Gedicht getreu zu folgen – mit diesem Marsch begleiten will.
Dann erscheint plötzlich eine Zwischenhandlung in Form einer Doppelfuge,11 die den Marsch unterbricht und einen kraftvollen Wirbel entfacht, der dem Freudenthema ein zweites, aus dem 1. Satz abgeleitetes Thema entgegenstellt. Inmitten der Wiederholung dieses Eingangsthemas, der kontrapunktischen Intensität der Fassung als Doppelfuge, dem Reichtum der Modulationen wissen wir nicht wirklich, wohin uns diese rein instrumentale Passage führen soll, wenn sie nicht nur als Übergang zwischen den beiden Teilen einer gleichen Stimmstruktur dient. Was schließlich aus diesem „Motor“ der Veränderung hervorgeht, ist die herrliche, „majestätische“ Wiederdarstellung des Freudenthemas in den Worten der ersten Strophe, als wären wir vom Profanen zum Heiligen geschritten.
Diese transformierende Kraft ist charakteristisch für die Kompositionen Beethovens, die ungefähr in den letzten zehn Jahren seines Lebens entstanden. Nach einer langen und schrecklichen persönlichen Krise, die das Auftreten seiner Taubheit auslöste, hatte Beethoven einen neuen Kompositionsstil entwickelt, der es ihm ermöglichte, Werke zu schreiben, die zu den schönsten und tiefgründigsten gehören, die jemals komponiert worden sind. Beispielhaft dafür sind seine letzten Quartette oder Klaviersonaten wie Opus 106 und 111.
Bestimmte Einflüsse spielten bei dieser Veränderung eine entscheidende Rolle. Zunächst muß berücksichtigt werden, daß zu Beethovens Zeit zwei große Dichter wiederentdeckt wurden: Shakespeare und Homer. Die Werke des Archäologen Johann J. Winckelmann und die Homer-Übersetzungen des Dichters Johann H. Voß erlaubten es dem deutschen Publikum, sich den Autor der Odyssee und der Ilias anzueignen, und waren für Beethoven eine unvergleichliche Inspirationsquelle in Substanz und Form.
Seine Exemplare von Ilias und Odyssee wiesen die Spuren häufiger Verwendung auf und waren voller Anmerkungen. Wir finden in seinen Notizbüchern Zitate, die er kopierte, um die Prosodie der griechischen Poesie mit der Idee zu studieren, sie in der Musik12 zu verwenden. Ein Beispiel für diese Studien ist der zweite Satz der 7. Symphonie mit den charakteristischen Daktylen und Spondäen des Themas13.
Wie Percy B. Shelley14 sah Beethoven im Dichter den wahren Gesetzgeber des Universums, zumindest den Erzieher der Nation. In einem Brief vom 9. August 1812 an den Musikverlag Breitkopf & Härtel, als er sich zu einer Kur in Franzensbad aufhielt und sein gesellschaftlicher Umgang eingeschränkt war, sagte er bezogen auf den großen Dichter Goethe: „Goethe behagt die Hofluft zu sehr, mehr als es einem Dichter ziemt. Es ist nicht viel mehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.“
Angesichts der populären und talentierten Salon-Dichter war Beethoven kein Mann, der seine Kunstauffassung verkaufte, sondern er betrachtete sich selbst als „Tondichter“, als Dichter der Klänge. Diese hohe Idee vom Künstler, die für ihn große Bedeutung hatte, war eng mit einer nicht weniger großen Verantwortung verbunden, denn „Der Dichter war … derjenige, der die Menschen sich selbst offenbaren läßt, weil er die Erinnerungsfähigkeit weckt und hervorbringt, was aktiv, aber tief im Herzen des Menschen verborgen ist… Er hielt es auch für seine Mission, auf seine Weise das Menschliche in seiner für ihn universellen Dimension zu erzählen.“15
4) Wenn der Aöde den antiken Chor eintreten läßt: Andante maestoso
Unter diesem Gesichtspunkt und unter Berücksichtigung der Zeit und des Kontextes, in dem er die Neunte Symphonie komponierte, muß sie als Werk des „Aöden“16 Beethoven betrachtet werden. Man muß Beethovens Wunsch hören, sich wieder mit der beschwörenden Kraft der Dichter des antiken Griechenland zu verbinden, um zu verstehen, was sie ist und was sie tatsächlich beinhaltet – wohl wissend, wie wir bereits erwähnt haben, daß Beethoven auch Forschungen über alte Kirchenmusik und antike Tonarten durchführte, die er in einigen seiner Hauptwerke wie im Quartett opus 132 (Satz im lydischen Modus) verwendet.
In der Hymne an die Freude spielt der Aöde Beethoven vom Beginn des Andante Maestoso an mit einem anderen Element, indem er einen antiken Chor auf die Bühne bringt. In einem ergreifenden musikalischen Moment intoniert er eine feierliche Hymne, die mit einer Monodie von acht Takten beginnt und zuerst von Tenören und Bässen (unterstützt von Posaunen und tiefen Streichern) auf den Worten „Seid umschlungen, Millionen!“ gesungen wird. Der zweite Teil – Adagio – verstärkt dieses himmlische Gefühl, indem er die Welt den Schöpfer, der „über den Sternen“ wohnt, „wirklich“ erahnen läßt. Beethoven verleiht ihm eine spürbare musikalische Gegenwart, indem es ihm gelingt, durch Worte, die äußerst schwierig zu vertonen sind, die lebendige Einheit von Wort, Rhythmus und Harmonie zu schaffen, die im Zentrum seiner Kunstauffassung steht.
Der Chor muß offensichtlich so sein, wenn wir an Beethoven als jemanden denken, der von Schillerschen Vorstellungen durchdrungen ist. Schiller dachte sich seine Poesie anhand des Maßstabs der Tragödie und der griechischen Dichtkunst, und wir können fast sicher sein, daß Beethoven Schillers Text Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie gelesen hat, geschrieben als Einführung zu Die Braut von Messina, um seine Entscheidung für den Rückgriff auf einen antiken Chor zu erklären.
© Griechisches Nationaltheater
Bei Schiller heißt es: „Der Chor ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff, aber dieser Begriff repräsentiert sich durch eine sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert. Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen und die Lehren der Weisheit auszusprechen. Aber er tut dieses mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge, wie mit Schritten der Götter, einhergeht – und er tut es, von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik in Tönen und Bewegungen begleitet.“
Es ist ein anderer Zeitbegriff, der hier eingeführt wird. Es ist nicht länger die Zeit der Menschen, sondern Zeit jenseits von Zeit und Raum. Es berührt auch eine wesentliche Dimension, die Schiller in den Mittelpunkt der Kunst stellt: die wesentliche Freiheit der Seele. „Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuß verschafft. Der höchste Genuß aber ist die Freiheit des Gemütes in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte… So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung…; denn das Gemüt des Zuschauers soll auch in der heftigsten Passion seine Freiheit behalten, es soll kein Raub der Eindrücke sein, sondern sich immer klar und heiter von den Rührungen scheiden, die es erleidet.“
Weiter sagt er: „Wenn die Schläge, womit die Tragödie unser Herz trifft, ohne Unterbrechung aufeinander folgten, so würde das Leiden über die Tätigkeit siegen. Wir würden uns mit dem Stoffe vermengen und nicht mehr über demselben schweben. Dadurch, daß der Chor die Teile auseinanderhält und zwischen die Passionen mit seiner beruhigenden Betrachtung tritt, gibt er uns unsre Freiheit zurück, die im Sturm der Affekte verlorengehen würde.“
Obwohl er keine Tragödie, sondern eine Hymne an die Freude schuf, verstand Beethoven, daß diese Strophe nur dann ihre volle Bedeutung erhalten würde, wenn er sie einem antiken Chor anvertraut. Dadurch beruhigt er, wie Schiller schreibt, die Handlung, befreit den Hörer von der außerordentlichen emotionalen Spannung, die er durchlaufen hat, und erlaubt ihm, die Handlung zu überragen, bevor er sie wieder findet, diesmal auf einer höheren Ebene.
5) Der Beweis durch das Werden: allegro energico, sempre ben marcato
Diese „feierliche“ Dimension weicht im folgenden Abschnitt einer geradezu explodierenden gesungenen Doppelfuge, deren polyphoner Reichtum im Kontrast zum Vorhergehenden steht. Die beiden Themen, das der Hymne an die Freude („Freude, schöne Götterfunken“) und das des „antiken Chores“ („Seid umschlungen, Millionen“), die jeweils nach den Worten der entsprechenden Strophen gesungen werden, geben den Stimmen Vorrang, während sie vollständig in die orchestrale Dimension integriert sind. Das ist der „Höhepunkt“ dieses vierten Satzes, der nun folgt, insbesondere die kurze fragende Rückkehr des „antiken Chores“, der tatsächlich die Apotheose des Schlußabschnitts vorbereitet.
In der Tat, wenn wir die Schlußtakte der Symphonie erreichen, löst der Schluß nach einem kurzen Zwischenspiel, das die Solostimmen zurückbringt, unmittelbar alle Überraschungen auf, alle Fragen, die in diesem Satz noch offen sind, der wie ebenso viele Akte eines einzigen Epos aufgebaut ist. Denn von den ersten Tönen der Symphonie mit ihrem Thema, welches das Geheimnis der Urzeiten, der Schöpfung, heraufbeschwört, bis zu den letzten Tönen wurde geduldig eine Spannung aufgebaut, die in dieser Doppelfuge gipfelt, um sich zu einem Ende zu lösen, das den Betrachter in dieselbe psychologische Dimension bringt wie die Tragödien oder die Epen der Autoren des antiken Griechenland.
Die unglaubliche Kraft des monumentalen vierten Satzes beruht auf dem Transformationsprozeß, der von Anfang an vom Keimthema der Hymne an die Freude ausging, wobei jeder Abschnitt es ermöglichte, mit dem, was sonst nur eine lineare und lästige Wiederholung gewesen wäre, eine neue Dimension zu schaffen. Beethoven scheint mehr als ein Jahrhundert im voraus die Frage zu stellen, die Einstein in seiner Diskussion mit Planck plagte. „Unser Konzept beschränkt sich hier auf eines, das innerhalb eines Zeitabschnitts vorkommt.“ Es ist auch die Frage der Transformation, des Werdens; das Thema der Hymne an die Freude ist, was es wird, ein Prozeß, der jeden Menschen zu dem zurückbringt, was er versuchen sollte zu sein.
In einem Artikel mit dem Titel So denken wie Beethoven schlug Lyndon LaRouche vor, „den letzten Satz der Neunten unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, der an anderer Stelle in der Großen Fuge definiert wurde (op. 133 und 134). Obwohl dieser letzte Satz der Neunten nicht die Große Fuge ist, sollte er so aufgeführt werden, als wäre er die Große Fuge für Orchester und Chor.“
© Orchestre Symphonique Kimbanguiste
Die Große Fuge ist ein Werk, das kurz nach Beethovens Abschluß der Neunten Symphonie komponiert wurde und auf großes Mißverständnis stieß. Wie das Finale der Neunten ist es in einem großen Satz aufgebaut, der in mehrere Abschnitte unterteilt ist, von denen jeder eine Transformation des ursprünglichen Themas noch „dramatischer“, noch wesentlicher macht als die Hymne an die Freude. Eine herbe und schwierige Arbeit, deren Schönheit in der ständigen Transformation zu suchen ist, mit dem Thema „wer wird“ und „wer ist“ Subjekt des Werks.
Der „glückliche-unglückliche“ Beethoven, wie er sich selbst sah, hatte sofort Erfolg mit seiner Hymne an die Freude, die die Herzen und Seelen seiner Zeitgenossen erregte, aber er wußte auch, besonders mit der Großen Fuge, daß er für die Zukunft komponierte, wenn seine Musik wirklich verstanden werden kann. Viele meinten, sie verstanden zu haben, und veranstalteten doch nur traurige Nachahmungen oder glaubten, das Dekonstruieren von Musik sei gleichbedeutend mit Beethoven.
Was Einstein betrifft, so stellten seine Entdeckungen unser Wissen über das Universum sofort in Frage, auch wenn einige darauf beharrten, die Relativität sei nicht zu 100% bewiesen. Hundert Jahre später gab ihm der Nachweis von Gravitationswellen endgültig Recht.
„Ein Gegenstand der Schönheit ist eine immerwährende Freude“, sagte der Dichter Keats. Ist das nicht die gleiche Freude, die von der Suche nach der Wahrheit hervorgerufen wird und die in der Wissenschaft wie in der Kunst einen Beethoven und einen Einstein jenseits ihres so unterschiedlichen Wesens zusammenführt?
Anmerkungen
1. „What life means to Einstein – an Interview by George Sylvester Viereck“ in dem amerikanischen Magazin Saturday Evening Post, 26. Oktober 1929.
2. Max Planck, der Autor der Quantentheorie, war selbst ein ausgezeichneter Musiker und Freund Einsteins. Er schwankte zwischen einer Karriere als Pianist und einer Karriere als Wissenschaftler, bevor er sich schließlich dem Studium der Mathematik und Physik widmete.
3. Der Artikel greift die allgemein anerkannte Unterscheidung auf: Die Ode an die Freude, der Titel von Schillers Gedicht, wird zur Hymne an die Freude in Beethovens Neunter Symphonie.
4. Schubert, voller Bewunderung für Goethe und dessen Gedichte, vertonte einige von ihnen und schickte sie ihm zu.
5. Dieses Finale, das für die Neunte Symphonie aufgegeben wurde, wird das des Quartetts Nr. 15.
6. So fordert das vierte Rezitativ der Celli/Kontrabässe die Reaktion des Orchesters auf den dritten Satz, gefolgt vom fünften Rezitativ der Celli/Kontrabässe: wie in einem echten Dialog.
7. Les Symphonies de Beethoven, Jean Chantavoine. Wagner sprach laut Chantavoine in Bezug auf das Thema der Hymne an die Freude von der „Melodie des guten Menschen“.
8. Allegro assai, p. 163 – Ed. Eulenburg Nr. 411
9. So bezeichnet im Streichquartett, das die Grundlage des klassischen Orchesters bildet: Violinen I, Violinen II, Bratschen, Celli, zu denen die Kontrabässe hinzukommen. Der andere große Teil des klassischen Orchesters besteht aus den Blasinstrumenten.
10. Presto, p. 175 – Op. Cit.
11. Die Fuge ist ein Kompositionsverfahren, das auf Imitation beruht. Ein Thema wird nach sehr genauen Regeln entwickelt und nacheinander von mehreren Stimmen aufgegriffen, die einander gegenüberstehen oder sich kreuzen. Die Doppelfuge hat zwei unterschiedliche Themen.
12. Le Sacre du musicien, Elisabeth Brisson, 2000, CNRS Editions.
13. Es handelt sich um metrische Elemente der klassischen griechischen Dichtkunst, die durch die Verwendung von „Versfüßen“ gekennzeichnet ist. Der Daktylus ist ein dreisilbiger Fuß, eine lange und zwei kurze Silben (- U U). Der Spondäus ein Fuß aus zwei langen Silben (- -), wobei sie nacheinander angeordnet sind: – U U / – –, das ist der Rhythmus des Themas des langsamen Satzes der 7. Symphonie.
14. Der allerletzte Satz der Verteidigung der Poesie, 1980, Ed. La Délirante
15. Le Sacre du musicien, S. 245.
16. Im antiken Griechenland ist der Aöde derjenige, der die Epen erzählt, sich selbst mit einem Musikinstrument begleitend. Homer ist das Beispiel eines Aöden.
Resolution zum Beethoven-Jahr
In einer Gegenwart, in der zunehmend sinnlose Gewalt, ein Verfall der kulturellen Werte, eine kaum noch zu überbietende Verflachung beim sogenannten volkstümlichen Geschmack und eine Verrohung des Umgangs miteinander zu beobachten sind, haben wir immer noch eine ganz entscheidende Quelle, von der eine kulturelle und moralische Erneuerung ausgehen kann: die klassische Kunst! Das großartige Menschenbild, das mit den dichterischen Werken von Dante, Petrarca, Lessing oder Schiller oder den erhabenen und großen Kompositionen von Bach, Mozart, Verdi, Beethoven, Schubert, Schumann oder Brahms verbunden ist, ist immer noch ein Bezugspunkt für die Art und Weise, wie wir uns als Gesellschaft definieren.